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Geschichte erlaufen

Wer in das Büro von Antje Schlichtmann in Verden bei Bremen kommt, weiß gleich, was die Leitende Polizeidirektorin umtreibt. An der Wand ist Artikel 1 des Grundgesetzes zu lesen, künstlerisch gestaltet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gleich daneben steht ein Roll-Up-Banner, das auf den geplanten Gedenkmarsch verweist, der Ende April an den Todesmarsch Tausender KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter vor 80 Jahren von Bremen-Farge in das NS-Kriegsgefangenenlager Sandbostel erinnert. Schlichtmann ist Initiatorin der Aktion – für die 43-jährige Polizistin ein Herzensprojekt.

„Das geht nur im Team“, freut sich die Chefin der Polizeiinspektion Verden/Osterholz über den großen Zuspruch, den ihre Anregung gefunden hat. Vor 40 Jahren hat es schon einmal einen Gedenkmarsch gegeben, damals vor allem von Antifaschisten und Friedensaktivisten im Bremer Norden vorangetrieben. Die Nachfolger von der Internationalen Friedensschule Bremen sind nun wieder dabei. Genauso wie die Gedenkstätte Lager Sandbostel, die Bremer Landeszentrale für politische Bildung, die Berufsbildenden Schulen Osterholz, Polizeien und Kommunen. Auch viele Initiativen und Institutionen haben sich angeschlossen – von den „Omas gegen Rechts“ über die Kirche bis zu Bürgervereinen.

„Überall standen die Türen offen für die Neuauflage des Gedenkmarsches“, berichtet Schlichtmann, die in der Region selbst bestens vernetzt ist. Die Route folgt nach einem Auftakt am Vorabend vom 24. bis zum 27. April auf mehr als 80 Kilometern der historischen Strecke vom Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge über Hagen im Bremischen, Beverstedt, Oerel und Bremervörde nach Sandbostel im Landkreis Rotenburg. Markiert wird der Weg seit dem Frühjahr 2022 durch eine wachsende Zahl von Stelen: schmalen weißen Betonsteinen, gut einen Meter hoch, auf denen senkrecht das Wort „Todesmarsch“ in Großbuchstaben zu lesen ist. Zehn Stelen stehen schon, während des Marsches sollen noch drei dazukommen.

Durch das Stelenprojekt sei sie überhaupt erst auf die Geschehnisse vor 80 Jahren aufmerksam geworden, erinnert sich Antje Schlichtmann, Mutter von zwei Kindern. Da ist sie nicht alleine. „Waren die Todesmärsche vor 80 Jahren sichtbar für die Bevölkerung, erinnerte lange Zeit kaum mehr etwas an die Route und die Gräber entlang der Strecke“, sagt Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel. „Die Stelen holen die Todesmärsche aus ihrer Unsichtbarkeit hervor.“

Kurz vor Kriegsende wurden Häftlinge aus Außenlagern des KZ Neuengamme im Wilhelmshavener und Bremer Raum auf einen Todesmarsch in das Kriegsgefangenenlager Sandbostel geschickt, den sie am 10. April 1945 antraten. Hunderte starben unterwegs an Entkräftung oder wurden von den begleitenden Wachmannschaften ermordet. Todesmärsche dieser Art gab es damals überall in Deutschland, unter anderem in Bayern, Thüringen, Sachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Zur Anzahl der Menschen, die auf diesen Gewaltmärschen ihr Leben verloren, gibt es nur weit auseinanderliegende Schätzungen. Zumindest ist von Hunderttausenden die Rede.

Unter dem Motto „Steps to remember“ sei der Gedenkmarsch nach Sandbostel nun ein Weg der Hoffnung, des Gedenkens und der Gemeinschaft, betont Antje Schlichtmann. Sie findet es wichtig, dass sich die Polizei an vorderster Stelle für das Projekt einsetzt. Im Nationalsozialismus sei sie ein zentrales Herrschafts- und Terrorinstrument gewesen, heute stehe sie für den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Mit dem Marsch soll Geschichte erlaufen werden, im übertragenen Sinne. Aber nicht nur das. „Es geht auf dem Weg auch um die Frage, welche Verantwortung wir für das demokratische Gemeinwesen heute tragen“, bekräftigt Schlichtmann. Mit „wir“ sei natürlich die Polizei gemeint, aber auch jeder Einzelne: „Dass wir uns das vor Augen führen, das ist wichtiger denn je. Deshalb sollten wir auch niemals einen Schlussstrich unter das ziehen, was damals passiert ist.“

Auf der Website www.geschichte-erlaufen.de gibt es nähere Informationen zu den Etappen. Allein zum Auftakt haben sich bisher mehr als 500 Menschen angemeldet, mit steigender Tendenz. „Schülerinnen und Schüler aus Frankreich gehen die ganze Strecke mit“, sagt Antje Schlichtmann. Täglich wollen zwischen 60 und 100 Begleitpersonen dafür sorgen, dass während des Marsches alles glattgeht. Die Teilnahme ist kostenlos. „Wir freuen uns über alle, die mitlaufen, auch etappenweise“, betont Antje Schlichtmann und ergänzt: „Ich wünsche mir gute Begegnungen und Gespräche über das, was damals passiert ist – und das, was die Menschen aktuell bewegt.“