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Gedenken an NS-Pogrom – “Etwas ist heute aus den Fugen geraten”

85 Jahre nach dem Nazi-Pogrom: Die zentrale Gedenkveranstaltung in Berlin mit Staatsspitze, Holocaust-Überlebenden und Angehörigen von Hamas-Geiseln steht unter großem Polizeischutz. Die Reden und Gebete gehen ans Herz.

In Deutschland ist nach Worten des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, “etwas aus den Fugen geraten”. In den vergangenen Wochen habe er das Land zuweilen nicht wiedererkannt, sagte Schuster in einer bewegenden Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Nazi–Novemberpogrome am Donnerstag in Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnte vor der Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden. Andernfalls beginne “der Abstieg einer Gesellschaft in die Katastrophe der Indifferenz, der Intoleranz, der Inhumanität”.

Die zentrale Gedenkveranstaltung stand unter massivem Polizeischutz. Sie fand in der Berliner Synagoge Beth Zion des Vereins Kahal Adass Jisroel statt. Die Synagoge liegt in dem Gebäudekomplex, in dessen Richtung Mitte Oktober mehrere Brandsätze geworfen worden waren.

Unter den Teilnehmenden am Donnerstag waren unter anderen Holocaust-Überlebende, Angehörige von Geiseln im Gazastreifen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Minister und Ministerinnen, Israels Botschafter Ron Prosor sowie Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Religionen. Militärbundesrabbiner Zsolt Balla rezitierte die Trauergebete und nannte dabei auch Namen von Kibbuzim, in denen die Hamas am 7. Oktober gewütet hatte.

Mit Blick auf Deutschland in der Zeit nach dem Terror sagte Schuster, es sei zugelassen worden, dass es sagbar erscheine, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren. “Es wurde zugelassen, dass sich tausende Menschen mit arabischem Migrationshintergrund, aufgehetzt von radikalen Fanatikern, auf die Straße trauen und all dies fordern.” Angesichts von rund 1.400 Toten und etwa 240 Entführten sprach er erneut vom “Pogrom unserer Zeit”.

Schuster sieht Parallelen in der Geisteshaltung radikaler Islamisten, die die Vernichtung Israels und der Juden wollten, und den “rechtsextremen Verächtern unserer Erinnerungskultur an die Schoa”. Aber auch in linksextremen und immer mehr linken Kreisen sei eine Verachtung zu spüren.

1938 waren vom 7. bis 13. November nach unterschiedlichen Schätzungen im damaligen Reichsgebiet zwischen 400 und 1.300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben worden. Mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.

“Das ist wohl der größte Unterschied zu 1938: Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft”, betonte Schuster. Allerdings könne Schutz nie absolut sein. Er bezeichnete die NS-Novemberpogrome als “die ultimative Demonstration des Judenhasses” und erinnerte daran, dass damals die große Mehrheit der Deutschen tatenlos zugesehen habe.

Der Bundeskanzler betonte, dass zu dem Versprechen “Nie wieder” gehöre, für den Schutz von jüdischen Einrichtungen zu sorgen. Polizei und Justiz müssten geltendes Recht durchsetzen. Wer Terrorismus unterstütze und antisemitisch hetze, werde strafrechtlich verfolgt. Auch stehe Antisemitismus einer Einbürgerung entgegen.

“Nichts, rein gar nichts – keine Herkunft, keine politische Überzeugung, kein kultureller Hintergrund, kein angeblich postkolonialer Blick auf die Geschichte – kann als Begründung herhalten, die Ermordung, das grausame Abschlachten Unschuldiger zu feiern”, bekräftigte Scholz mit Blick auf den Terror der Hamas.

Um das, was heute aus den Fugen geraten sei, zu reparieren, müsse man sich auch eingestehen, was schiefgelaufen sei, so Schuster. Dazu gehöre die Erkenntnis, dass Antisemitismus, auch israelbezogener, bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sei.

Angesichts eines deutlich steigenden Judenhasses sagte Schuster, das Jüdinnen und Juden stark, selbstbewusst und mutig seien – trotz Angst. Gerade jetzt sei Schutz gut und wichtig, aber: “Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land; frei leben in dieser offenen Gesellschaft.”