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Für Hamburgs erste Türmerin geht ein Traum in Erfüllung

Frischer Wind auf dem Turm des Hamburger Michels. Erstmals in der Geschichte der Kirche hat eine Frau das Amt des Türmers übernommen. Was sie antreibt.

Neele Fokken ist die neue Türmerin am Hamburger Michel
Neele Fokken ist die neue Türmerin am Hamburger MichelD. Leltschuk/St. Michaelis

Nebel und Nieselregen, bei typisch hamburgischem Wetter sind die Dächer der Stadt vom Turm des Michels kaum zu erkennen. Neele Fokken steht auf dem siebten Turmboden der berühmten Kirche in 80 Metern Höhe und bläst ihre Trompete warm. In ihrem Notenbuch hat sie bereits den Choral “Aus meines Herzens Grunde” aufgeblättert. In wenigen Minuten schlägt die Turmuhr zehn. Das Startsignal für ihren Auftritt.

Fokken ist als erste Frau Türmerin am Hamburger Michel. Sie teilt sich das Amt mit dem langjährigen Inhaber Josef Thöne, nachdem sein bisheriger Kollege in den Ruhestand getreten ist. Ein- bis zweimal täglich erklimmt einer der beiden Trompeter den Turm der evangelischen Hauptkirche Sankt Michaelis und bläst aus den Fenstern einen Choral – jeweils einmal in alle vier Himmelsrichtungen. Werktags um 10.00 und um 21.00 Uhr, sonntags um 12.00 Uhr. Dieser protestantische Brauch wurde während der Reformation in Hamburg eingeführt; am Michel wird er seit mehr als 300 Jahren praktiziert. Bis zur Aufhebung der Torsperre 1861 soll der Trompeten-Choral das Zeichen für die Öffnung beziehungsweise Schließung der Hamburger Stadttore gewesen sein.

Michel-Türmerin Nele Fokken will Vorbild sein

“Ich hoffe, dass ich ein Vorbild sein kann für andere Frauen und Mädchen, sich zu trauen, Trompete zu spielen”, sagt Fokken. Die 27-Jährige hat Trompete, Kulturmanagement und Grundschullehramt studiert und unterrichtet an einer Musik- und an einer Grundschule Trompete und Musik.

Hoch oben auf dem Michel spielt Nele Fokken künftig Trompete
Hoch oben auf dem Michel spielt Nele Fokken künftig TrompeteImago / Joko

Als Thöne sie fragte, ob sie das Türmer-Amt übernehmen könne, musste sie nicht lange überlegen. “Ich wollte schon immer mal am Michel Trompete spielen”, sagt die gebürtige Ostfriesin, die zum Studium nach Hamburg kam und inzwischen in Sichtweite des Wahrzeichens wohnt. “Ich bin stolz, dass ich das kulturelle Erbe der Stadt fortführen darf.”

Die ersten Erfahrungen sind durchweg positiv, erzählt Fokken, die bereits seit Sommer vergangenen Jahres im Amt ist. “Dass ich nun täglich Trompete am Michel spielen darf, macht mich sehr sehr glücklich. Das ist schon ein sehr besonderes Gefühl.” Einige Menschen lauschten ihr täglich von den benachbarten Balkonen, Touristen würden ihr vom Kirchplatz aus zuwinken. “Da winke ich natürlich zurück.”

Türmer-Kollege in Hamburg freut sich über weibliche Verstärkung

Ihr Kollege Thöne zeigt sich erfreut, nun eine Frau an seiner Seite zu haben. “Die Zeiten schreiten voran”, so der 65-Jährige, der seit mehr als 30 Jahren im Amt ist. Früher sei das Trompetespielen eine Männerdomäne gewesen. Inzwischen habe sich das zum Glück geändert.

Die Türmer vom Michel sind nicht die einzigen in Deutschland. An gut einem halben Dutzend Orten versehen noch Türmer als Wächter ihren Dienst. So ruft etwa auf dem Turm der Sankt-Georgs-Kirche im bayerischen Nördlingen ein Vertreter der Zunft am Abend halbstündlich “So Gsell, so!”. Vom Nordturm der Sankt-Johannis-Kirche in Göttingen spielt ein Turmbläser jeden Samstag für eine Viertelstunde Choräle. Und vom Hausmannsturm in Helmstedt wird von April bis Oktober jeden Samstag um 12.00 Uhr vom “Hausmann und seinen Gesellen” durch Choräle der bevorstehende Sonntag “angeblasen”.

Türmer warnten früher vor Gefahren

Türmerinnen sind selten. Auf Münsters Lamberti-Kirchturm versieht mit Martje Salje seit 2014 eine Frau dieses Amt. Sie ist die erste in der seit dem Jahr 1383 verbrieften Tradition in Münster. Und auch in Bad Wimpfen, wo das Türmeramt ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert besteht, ist mit Blanca Knodel seit 1996 eine Türmerin im Dienst. Das Besondere an ihr: Sie wohnt sogar oben im Turm in einer rund 55 Quadratmeter großen Dienstwohnung. Auf dem Turm der Sankt-Annen-Kirche in Annaberg-Buchholz schließlich lebt gleich eine ganze Türmerfamilie.

Überall hatten die Türmer einst die Aufgabe, vor Gefahren zu warnen – seien es Brände oder herannahende Feinde. Heute locken sie vor allem Touristen an. Das Wichtigste im Job des Türmers ist laut dem erfahrenen Hamburger Josef Thöne Zuverlässigkeit. Das tägliche Choralblasen vom Michel sei in der Vergangenheit nie ausgefallen – mit einer Ausnahme: “Einmal hatte mein früherer Kollege einen Fahrradunfall bei der Anfahrt.”