Kreuze am Straßenrand, daneben ein ewiges Licht – sie stehen überall im Land, aber jetzt, in der Vorweihnachtszeit, fallen sie besonders auf. Dort gab es einen tödlichen Unfall. Manchmal erinnert auch ein großer Stein.
Esther Margarete war elf Jahre alt. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs, kam vom Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes im südhessischen Weiterstadt-Braunshardt. Sie überquerte einen Bahnübergang mit Halbschranken. Wenig später lag sie schwer verletzt am Boden. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma. Drei Tage später war sie tot. „Sie ist nicht das erste Opfer an diesem Bahnübergang“, sagt ihre Mutter Tabitha Oehler. Die Ursache seien wahrscheinlich zwei entgegenkommende Züge gewesen. Genau weiß sie es nicht. Seit 1998 trauert sie um ihre kleine Tochter.
Ein Stein aus dem Traumland Schweden
Mit vielen Briefen, Zetteln mit Gedichten, jeder Menge Blumen haben Angehörige, Nachbarn, Freunde der Toten gedacht. Schließlich haben die Oehlers einen großen Stein mitgebracht aus dem Urlaub in Schweden, „dem Traumland unserer Tochter“. Sie versahen ihn mit Esters Namen und Unfalldatum. Der Vater hieb in mühseliger Kleinarbeit eine Vertiefung hinein, für Blumen. „Diesen Stein haben wir als Mahnmal an den Unfallort gestellt. Schon lange sollte dort eine Unterführung sein“, erklärt Tabitha Oehler. Die Freundinnen gingen dorthin, „ab und zu haben wir uns dort getroffen“, erzählt die Mutter. Ganz gewiss jedes Jahr am Todestag.
Vor ein paar Jahren war es dann so weit: Die Unterführung wurde gebaut. „Was passiert mit dem Stein?“, fragten die Freundinnen. Der steht jetzt vor dem Haus des DRK in Braunshardt – mit rosa Margeriten. „Dort war sie ja zuletzt“, erklärt die Mutter. „Am Unfalltag gehe ich hin und stelle eine Blume hinein.“
Auch die Familie P. aus dem Odenwald pflegt die Stelle, an der ihr Sohn 1999 im Alter von 19 Jahren mit dem Auto tödlich verunglückt ist. Das Kreuz, das dort steht, haben seine Kameraden von der Feuerwehr geschmiedet und aufgestellt. Für die Mutter gehört es zu ihrem Trauerprozess, die Familie fährt immer daran vorbei, wenn sie das Dorf verlässt. „Ich könnte mir vorstellen, dass es gerade für junge Leute angenehmer ist, die Stelle an der Straße zu besuchen als am Grab zu stehen, weil mit dem Friedhof eine höhere Hemmschwelle verbunden ist”, sagt sie.
Verhaltenspsychologen hätten festgestellt, dass Unfallkreuze trotz ihrer sehr individuellen Ausprägung eher in den Zuständigkeitsbereich von Männern fallen, sagt Raimar Kremer, stellvertretender Leiter des Zentrums Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie ergriffen in vielen Fällen die Initiative, um diese Kreuze zu errichten. „Anlaufpunkt für die Frauen ist dagegen oft das Grab. Ist der Friedhof ein sozial kontrollierter Ort, was die Art zu trauern, den Blumenschmuck und manchmal die normierten Grabkreuze anbelangt, ist der Ort, wo die Unfallkreuze stehen, alles anders als kontrolliert. Es ist ein Freiraum für Trauer und Schmerz, wo der Mensch individuell seine Trauer ausleben kann“, erklärt Kremer.
In Deutschland würden die Straßenmeistereien diese Kreuze in den meisten Fällen tolerieren. Vom juristischen Standpunkt aus betrachtet gäbe es kein Recht, sie zu errichten. Aber sie würden auch nicht entfernt. „Wird entlang der Straßen das Gras gemäht, werden diese Kreuze vorsichtig umfahren“, hat Kremer beobachtet.
Gedenkkreuze geben den Hinterbliebenen Halt. Sie helfen, alleine oder mit anderen um die Verstorbenen zu trauern. Vor allem in den ersten drei bis vier Monaten nach einem Unfall würden Angehörige und Freunde eine hochemotionale Phase durchleben, schreibt Christine Aka vom Kulturanthropologischen Institut Oldenburger Münsterland in ihrem Buch „Unfallkreuze – Trauerorte am Straßenrand“. „Wut und depressive Zustände wechseln sich ab. Immer wieder werden in dieser Zeit frische Blumen oder Erinnerungsobjekte an den Unfallort gebracht“, schreibt die Kulturanthropologin, die sich mit einer Studie zu Unfallkreuzen habilitiert hat.
Eine wichtige Rolle spiele, dass Angehörige und Freunde die Kreuze genau dort aufstellen, wo ein tödlicher Unfall geschehen ist. „Bei vielen hat das etwas mit der Vorstellung zu tun, dass die Seele des Angehörigen an diesem Ort den Körper verlassen hat“, erläutert Aka. Die Hinterbliebenen empfinden hier oft eine größere Nähe zu den Verstorbenen als anderswo. Demgegenüber würden viele die Zeremonie einer Beerdigung auf dem Friedhof als eher unpersönlich wahrnehmen, erläutert Aka.
Das Straßenkreuz stammt oft von Freunden
Nach Akas Erfahrung sind es seltener die Angehörigen des Verkehrstoten, die ein Unfallkreuz aufstellen. Oft sind es enge Freunde. Denn auf die Gestaltung auf dem Friedhof haben sie nur wenig Einfluss. „Gerade bei jungen Unfallopfern machen deren Freunde häufig die ersten direkten Erfahrungen mit Trauer“, erklärt die Expertin.
Wie gut ein Kreuz erhalten ist, lässt laut Aka Rückschlüsse auf den Verlauf des Trauerprozesses zu. Mit der Zeit finden Hinterbliebene in den Alltag zurück – die Besuche am Unfallort werden seltener. Die meisten Gedenkkreuze fangen nach ein paar Jahren an zu verfallen. Die zuständigen Behörden entfernen die Symbole in der Regel erst dann, wenn sie feststellen, dass sie seit einiger Zeit nicht mehr gepflegt werden.
Der Stein aus Schweden zur Erinnerung an Esther Margarete bleibt stehen. Vielleicht hat er dazu beitragen, dass die Unterführung gebaut worden ist, damit anderen dieses Schicksal erspart bleibt.
• Christine Aka: „Unfallkreuze – Trauerorte am Straßenrand“ Verlag Waxmann 2007, 336 Seiten, 19,90 Euro. ISBN: 978-3-8309-1790-8.