Olaf Georg Klein hat das Tagebuchschreiben erforscht. In der Autorin des wohl berühmtesten Tagebuchs der Welt, dem jüdischen Mädchen Anne Frank, sieht der Experte ein Vorbild – gerade in der heutigen Zeit.
Viele junge Menschen erleben sich selbst nach Worten des Theologen Olaf Georg Klein als wenig handlungsfähig. “Wenn alles so beliebig und oberflächlich wird, sind Sinnkrisen ja fast schon vorhersehbar”, sagte er im Interview des Portals domradio.de (Donnerstag). Es gebe viele Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnlosigkeit unter Jugendlichen, weil diese sich “nur noch als Objekt oder als Teil von irgendwelchen Gruppen oder soziologischen Kategorien” erlebten.
Das Tagebuch von Anne Frank sei auch ein Beispiel dafür, “dass Selbstbestimmung und Selbstwerdung einem nicht geschenkt werden, sondern dass man sie sich erarbeiten muss”, fügte der Coach hinzu. Wer Tagebuch schreibe, sei “im Dialog”, in einem “sehr konzentrierten Selbstgespräch. Das ist zugegeben aber schwierig zu vermitteln, wenn man in einer freien Gesellschaft lebt, in der scheinbar alles möglich ist und es keine Sprech- und Denkverbote gibt.” Umgekehrt könne man sagen: “Je unfreier das Umfeld ist, desto wichtiger ist es, ein Tagebuch zu haben.”
Vor 80 Jahren, am 1. August 1944, schrieb Anne Frank zum letzten Mal in ihr Tagebuch. Kurz darauf wurde das Mädchen von der Gestapo entdeckt und deportiert. Wenige Monate später starb Anne mit 15 Jahren im Konzentrationslager.
Gute Vorbilder könnten jungen Menschen auch heute das Tagebuchschreiben nahebringen, betonte Klein, der ein Buch darüber veröffentlicht hat: etwa “gute Lehrer, die Schülern eine andere Sicht auf die Welt zeigen und sie davon überzeugen, dass es viele gute Gründe dafür gibt”. Wenn Menschen etwa das Tagebuch von Anne Frank läsen, könnten sie das “unglaubliche Potenzial” dieser Tätigkeit erkennen: “weil man sich eben nicht im Außen verliert, sondern sich auf sich selbst konzentriert”.
Beim Schreiben gehe man “automatisch nach innen”, sagte der Autor. Wer Situationen detailliert beschreibe und zudem die eigenen Gedanken und Assoziationen dazu festhalte, vertiefe die eigene Wahrnehmung. Sätze und Emotionen, die man selbst formuliert habe, hätten “eine völlig andere Durchschlagskraft” als beispielsweise ein Foto.