Von Abba bis Adele: Karaoke kann Jung und Alt verbinden, ambitionierte Sängerinnen und schüchterne Chorknaben. Weltweit feiern Menschen das gemeinsame Singen – auf unterschiedliche Art.
Karaoke habe “eine neue Art gezeigt, wie wir lernen können, einander zu tolerieren”: So hieß es vor über 20 Jahren, als der Japaner Daisuke Inoue für die Erfindung des Nach- und Mitsing-Spaßes geehrt wurde. Die Auszeichnung mit dem sogenannten Ig-Nobelpreis ist stets ironisch durchsetzt, und Inoue ist nur einer von vielen Vätern des Karaoke. Das erfährt, wer im soeben erschienenen Buch “Völlig losgelöst” schmökert. Autor Andreas Neuenkirchen, der seit mehreren Jahren in Tokio lebt, verbindet darin kulturelle mit technischer Entwicklung, amüsante Anekdoten mit verblüffenden Fakten.
Derzeit gebe es weltweit “immense Probleme mit Toleranz”, sagt Neuenkirchen. Als Allheilmittel dagegen könne Karaoke zwar nicht herhalten. Aber, so stellt er fest: “Karaoke zwingt uns, gewisse Realitäten zu akzeptieren.” Singen wirke grundsätzlich belebend – und wer am Mikrofon die anfängliche Scheu überwinde, werde schnell feststellen: “Die meisten singen gar nicht besser als man selbst – und umgekehrt sagt niemand, das war jetzt aber schlecht.”
Das Wort “Karaoke” kommt aus dem Japanischen und bedeutet übersetzt “leeres Orchester”. Zunächst handelte es sich um einen Fachbegriff aus dem Rundfunk, der in den 1960er Jahren für eine der ersten Boxen übernommen wurde, die genau dafür gedacht war, was man heute unter Karaoke versteht: das Nachsingen von musikalischen Hits, versehen mit Tonreglern und bunten Lämpchen, und das Nachhören der eigenen Interpretation.
Hierzulande gilt Karaoke oft als trashig, manchen als spaßig, anderen als hochnotpeinlich. In Japan sei das anders, gehöre Karaoke für viele zur Freizeit, aber auch im Kollegenkreis dazu. Dort habe sich das Singen über Jahrtausende frei entwickelt, erklärt Neuenkirchen. “Es hat schon in Schöpfungsmythen seinen Platz, jede Region hat ihr Volksfest, zu dem Musik und Tanz gehören, jede Schule ihre Hymne, jeder Bahnhof eine eigene Melodie.” Im Westen sei Singen dagegen häufig schambehaftet: “Daher wählen viele bewusst eine ironische Haltung beim Karaoke, singen extra schräg, um sich keinesfalls zu blamieren.”
Diese Wahrnehmung könnte sich künftig durchaus ändern, vermutet der Experte. Inzwischen gebe es in europäischen Großstädten erste Karaoke-Bars, die nicht als Lokal mit Bühne gestaltet seien, sondern abgetrennte Boxen anbieten. “In Japan ist es üblich, in einer kleinen Gruppe oder auch allein einen Raum anzumieten – und dort einfach aus Spaß zu singen. In diesen Centern kann man Speisen und Getränke bestellen und zwischen tausenden Liedern wählen.” Ein Interesse an dieser Art des Singens zeige sich etwa darin, dass Mitsing-Spiele etwa für Konsolen auch hier sehr erfolgreich seien.
Dass Karaoke in Japan ein solcher Dauerbrenner ist, liegt freilich auch an einem Musiker, der Neuenkirchen in diesem Zusammenhang überrascht hat, wie er sagt: Bruce Springsteen. Dessen Album “Born in the USA” von 1984 sei das erste aus dem modernen Rock-Pop gewesen, das für Karaoke lizenziert wurde. “Vorher gab es nur Enka, japanische Schlagermusik. Das hätte die jungen Leute nicht mehr dauerhaft begeistert.”
Inzwischen gibt es auch in Japan Karaoke-Wettstreits, die an hiesige Castingshows erinnern. Und nachdem es sich zunächst geweigert hatte, ist das Land heute längst bei der Karaoke-Weltmeisterschaft dabei, die ursprünglich Finnland ins Leben gerufen hat. “Trotzdem soll es kein Leistungssport sein”, betont Neuenkirchen. Vielmehr gehe es um eine niederschwellige Möglichkeit, mit dem Singen verbundene Berührungsängste oder auch Schüchternheit zu überwinden, kreativ zu werden, indem man beispielsweise Songzeilen verändere.