George Gershwin (1898-1937) eroberte Anfang des 20. Jahrhunderts den Broadway und die Konzertsäle. Die Musikwissenschaftlerin Gisela Schubert befasst sich seit Jahren mit dem Komponisten und arbeitet aktuell an einer Gershwin-Biografie. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie zum 125-jährigen Geburtstag über Gershwins Aufstieg vom Straßenjungen zum weltbekannten Star und verrät, was den Komponisten einzigartig macht – und warum er dennoch von Kollegen belächelt wurde.
KNA: Frau Schubert, was macht George Gershwins Musik besonders?
Gisela Schubert: Gershwin wollte eine spezifisch amerikanische Musik komponieren, die das amerikanische Lebensgefühl wiedergibt. Als Kind russisch-jüdischer Einwanderer mag es ihm besonders am Herzen gelegen haben, in seiner Musik einen genuin amerikanischen Ausdruck zu finden. Dazu verbindet er in seinen Werken verschiedene Stile und Traditionen. Einfach gesagt verwendet er Stilmittel aus der seriösen und aus der populären Musik.
KNA: Woran kann man das hören?
Schubert: Form, Kompositionstechnik und Harmonik seiner Werke für den Konzertsaal gründen auf der Kunstmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Beispielsweise das “Concerto in F”. Mit “Porgy and Bess” komponiert er ausdrücklich eine Oper, kein Musical. Er kombiniert diese “klassischen” Kriterien aber mit seinem melodischen Erfindungsreichtum. Und der war populärmusikalisch ausgerichtet. Denn Gershwin war eben auch ein Songwriter, der viele Songs für das Unterhaltungstheater geschrieben hat.
KNA: Manch einer hat ihn deshalb nicht ernst genommen.
Schubert: Man lobte Gershwins “seriöse” Arbeiten für das, was ihn als Songwriter ausmacht, einfallsreiche Melodien und rhythmisches Geschick. Aber man bezweifelte gerne, dass er größere Formzusammenhänge gestalten könne. So meinte Leonard Bernstein, in Gershwins Tondichtung “Ein Amerikaner in Paris” “nur eine Studie von hinreißenden, aber völlig zusammenhanglosen Melodien” zu erkennen. Ich teile die Auffassung des Musikwissenschaftlers Larry Starr, der sagt, dass Gershwins Musik komplizierte Musik sei, dass es aber sein großes Talent war, sie so klingen zu lassen, als ob sie es nicht wäre.
KNA: War Gershwin ein Jazzkomponist?
Schubert: So ist er oft gesehen worden. In den 1920er Jahren war Jazz noch ein vager Begriff für alles Mögliche. Jazz und Popularmusik waren auch nicht eindeutig getrennt. Gershwin hat sich ausgiebig mit afroamerikanischer Musik befasst und Stilelemente wie “Blue Notes” oder rhythmische Finessen in seine Musik aufgenommen. Jazz symbolisiert für ihn amerikanische Vitalität und Energie. Zugleich denkt er, dass es, um zu überdauern, in höheren musikalischen Zusammenhängen aufgehen müsse. In seiner Oper “Porgy and Bess” verlagert sich sein Interesse in Richtung afroamerikanischer Folklore.
KNA: Ihre Lieblingsanekdote zu Gershwin?
Schubert: Gershwin spielte Klavier, wo er ging und stand. Als Kind war er ein wilder Straßenjunge. Dann kam 1910 ein Klavier in den Haushalt, und er bekam Unterricht. Das veränderte sein Leben. Er sagte einmal über sich, das Klavierspielen habe aus einem schlechten einen guten Jungen gemacht. Als Erwachsener, berühmt und reich geworden, wurde er auf zahllose Parties eingeladen. Dort war er immer am Klavier zu finden und spielte gerne die Songs aus den Musicals vor, die er gerade erarbeitete.
KNA: Wie war er als Mensch?
Schubert: Er war attraktiv, gesellig, hatte Charme und begeisterte sich für alles, was er tat. Das muss ansteckend gewirkt haben. Freunde sagten, seine Musik entspräche seinem Wesen. Er war vielseitig interessiert und lernbegierig, er trieb Sport, fotografierte und malte.
KNA: Von seinem älteren Bruder Ira stammen viele Texte zu Gershwins Musik. Wie funktionierte die Zusammenarbeit?
Schubert: Die beiden Brüder waren sehr unterschiedlich. Ira war der Gelehrte der Familie, las viel und besaß eine große Bibliothek. Ira war zurückhaltend, aber auch humorvoll, ironisch und ein guter Beobachter. Es gibt von beiden Brüdern Selbstporträts aus dem Jahr 1932. George malte sich schlank und elegant, in Frack und Zylinder, Ira stämmig, bequem in Unterwäsche und Pantoffeln, im Mundwinkel eine Zigarre. Die Brüder verband eine enge Beziehung.
Als George mit 38 Jahren an einem Gehirntumor starb, war das für Ira ein tiefer Schlag. Georges Melodien entstanden oft aus der Improvisation am Klavier heraus. Ira prägte sie sich vor sich hin summend ein und feilte sodann – Perfektionist, der er war – akribisch an geistreichen Texten.
KNA: Wie hat Gershwin auf die Nachwelt gewirkt?
Schubert: Die amerikanische Musik ist ohne Gershwin nicht denkbar. Einerseits ist seine Musik omnipräsent. Seine Melodien sind Grundlage für Jazz-Improvisationen, die man in der Werbung oder beim Shopping hört. Auch das Kino hat sich bei Gershwins Musik bedient. Woody Allens “Manhattan” (1979) beginnt mit der “Rhapsody in Blue”. Andererseits wird Gershwin erst in jüngerer Zeit von der Musikwissenschaft als großer Komponist entdeckt. In den USA entsteht eine Gesamtausgabe seiner Werke.
KNA: Was lohnt sich zu entdecken?
Schubert: Seine Arbeiten für das unterhaltende Musiktheater. Er war vor allem ein Theaterkomponist. Die Musical Comedies, für die die Gershwin-Brüder in den 1920er Jahren Songs wie “Lady”, “Be Good!” oder “Funny Face” schrieben, zeugten von besonderer Qualität: Eleganz, Liebenswürdigkeit, auch Zartheit, tänzerischen Drive, Spielerisches in Text und Musik, originelle Melodien und fantasievolle Harmonik. Die politisch-satirischen Musicals der Gershwins aus den 1930er Jahren trieben die Entwicklung des Genres Musical voran. Seit den 1990er Jahren sind etliche Gershwin-Musicals in rekonstruierten Fassungen eingespielt worden und geben eine Vorstellung davon, wie sie zu seiner Zeit geklungen haben mögen.