Für junge Menschen ist TikTok “das entscheidende Leitmedium” – und die Öffentlichkeit unterschätzt diesen Einfluss: Das betont die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, Deborah Schnabel. Lehrkräfte hätten “wenig Werkzeuge, um damit umzugehen”, sagte Schnabel im Interview der “Süddeutschen Zeitung” (Montag). “Da ist eine riesige Lücke entstanden.”
So seien antisemitische Codes, die im Netz viel genutzt würden, ansonsten kaum bekannt, erklärte die Psychologin. Damit automatisierte Kontrollen nicht reagierten, würden Emojis oder Verklausulierungen genutzt: “Da schreibt man ‘seis juden’ als Variante von ‘scheiß’ oder wählt die Verbindung des israelischen Flagge mit einem Schuh oder einer Toilette und Blitz-Emojis als Symbol für die SS.”
Umgekehrt falle es vielen Nutzerinnen und Nutzern schwer, “klassische antisemitische Verschwörungserzählungen zu dekodieren”. Sie sei von Studierenden schon gefragt worden, was an einem Ausdruck wie “Kindsmörder Israel” problematisch sei, so Schnabel. “Die Historie dahinter, dass Juden im Mittelalter beschuldigt wurden, für das Kindersterben verantwortlich zu sein, was dann letztlich zu Pogromen an jüdischen Menschen führte – dieser Bezug konnte mangels Nichtwissen nicht hergestellt werden.” Für junge Menschen fühle sich auch die NS-Geschichte “immer weiter weg” an. “Es gibt kaum noch Zeitzeugen, für viele hat Antisemitismus, im Gegensatz zu Rassismus, wenig mit ihrem Alltag zu tun”.
Die Bildungsstätte hatte in der vergangenen Woche eine Studie vorgelegt, wonach antisemitische Radikalisierung via TikTok mitunter in kürzester Zeit geschieht. Dafür hat die Einrichtung Äußerungen von Lehrkräften und Schülern aus eigenen bundesweiten Bildungsangeboten in den ersten drei Monaten nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober ausgewertet, ebenso TikTok-Inhalte dieses Zeitraums.
Als nächstes wolle man rechte Akteure auf TikTok besser verstehen. “In Deutschland nutzt keine Partei die Plattform so intensiv wie die AfD”, erklärte Schnabel. Deren Fraktionsvorsitzende Alice Weidel zeige sich etwa, wie sie im Auto rasch einen Lidstrich nachziehe – sie habe “das Medium richtig verstanden”. Es brauche mehr Menschen, die die Plattform mitgestalten, denn sie biete die Chance, “mit jungen Menschen in Kontakt zu kommen, sie zu sensibilisieren, über sie in Communities hineinzuwirken, die man sonst nicht erreicht”.