Workout statt Essen, der Blick in den Spiegel als strenger Richter: So sah Antonias (Name geändert) Alltag während des ersten Corona-Lockdowns ab März 2022 aus. Die damals Zwölfjährige folgte der Idee des „Glow up“ diverser Fitness-Influencerinnen: „Nach der Pandemie wollte ich als anderer Mensch zurückkommen, schöner denn je“, erinnert sich die junge Frau heute. So sei sie „blöd reingerutscht“ in eine handfeste Essstörung, die sie nach zwei leidvollen Jahren schließlich nach einem langen Aufenthalt in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee überwunden hat.
So wie Antonia ist es während der Coronapandemie vielen Kindern oder Jugendlichen ergangen – und die Folgen halten an. Fachärzte stellen auch fünf Jahre nach Beginn der Pandemie vermehrt psychische Belastungsstörungen bei jungen Menschen fest. „20 Prozent der Jugendlichen sind noch immer davon betroffen“, erklärte Ulrich Voderholzer, Chefarzt für Psychiatrie an der Schön Klinik, am Donnerstag bei einer Pressekonferenz im Münchner Presseclub. Die Entwicklung habe bereits zehn Jahre vor Corona begonnen: weil Familiensysteme weniger stabil sind, weil Sozialsysteme jedes Mal abbrechen, wenn Menschen umziehen, weil Phänomene wie Klimawandel und gesellschaftliche Radikalisierung verunsichern können. Die Pandemie – und die damit einhergehende exzessive Smartphone-Nutzung – habe die Entwicklung jedoch „wie ein Brandbeschleuniger“ auf ein höheres Niveau katapultiert.
Wissenschaftliche Studien sprächen mittlerweile von „Kipppunkten“ im Bereich der psychischen Gesundheit junger Menschen, ergänzte Jörg Fegert, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. Wenn immer mehr junge Menschen – ohne Behandlung zum Teil ihr Leben lang – unter psychischen Erkrankungen litten, habe das gravierende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Folgen. Mit frühzeitiger Therapie und einer besseren Vernetzung mit digitalen Angeboten könne das verhindert werden: „Gerade digitale Startups wie die Initiative ‚Krisen-Chat‘ könnten eine Wächterfunktion übernehmen und Betroffene bei Bedarf ins etablierte Gesundheitssystem verweisen“, sagte der Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Oft seien Patienten schon chronisch krank, bis sie – auch aufgrund langer Wartezeiten bei Therapeuten und Vorgaben der Krankenkassen – schließlich in eine Therapie kämen. Je früher die Behandlung beginne, desto besser seien aber die Heilungsprognosen, erklärte Fegert. Um einen rascheren Zugang zu Therapieangeboten zu gewährleisten, müsse man telemedizinische Formate wie Video-Therapie oder KI-gestützte Angebote fördern.
Zugleich betonten die beiden Ärzte, dass ein negativer Blick auf die junge Generation nicht gerechtfertigt sei und auch nicht weiterhelfe. „Statt dessen müssen wir ihren Selbstwert stärken, Hoffnung vermitteln, Orientierung geben, Resilienz fördern“, sagte Voderholzer. Zudem müssten Jugendliche mit ihrer Expertise stärker in die Entwicklung von Präventionskonzepten einbezogen werden.
Für Antonias Heilung war das Vertrauen ihres Umfelds entscheidend. „Meine Eltern und Freunde haben mir gezeigt: Wir sind da, wir hören dir zu“, berichtete die 17-Jährige. Doch ohne professionelle Hilfe hätte sie es nicht geschafft. Deshalb hat auch die junge Frau einen Wunsch: „Es ist wichtig, dass alle Jugendlichen mit psychischen Problemen in diesen sensiblen Jahren eine Chance auf Therapie haben, auch wenn sie nicht in der Großstadt wohnen oder privat versichert sind.“ Schnell müsse es außerdem gehen, ist Antonia überzeugt: „Solange ich noch ein offiziell ‚normales‘ Gewicht hatte, wurde ich nicht ernst genommen.“ Sie wäre viel schneller genesen, wenn die Behandlung früher eingesetzt hätte, sagt sie im Rückblick. Ihre Mahnung: „Man muss auf Jugendliche hören, wenn sie sagen, dass es ihnen schlecht geht.“ (1058/27.03.2025)