Artikel teilen:

Es kann nur einen geben

Wer die Reize der schottischen Landschaft erkunden will, hat auf dem „West Highland Way“ optimale Möglichkeiten. In der Vorsaison ist der Fernwanderweg noch nicht überlaufen

Dirk Baas

Der erste Whisky am Tag drei der Tour nähert sich völlig überraschend. Eine Seniorengruppe aus Dänemark lässt auf dem schottischen Fernwanderweg „West Highland Way“ nahe Crianlarich munter eine Flasche kreisen. Eine freundliche Dame schließt die fremden Wanderer ein, reicht den goldfarbenen Alkohol weiter. Es ist nass und kalt, wie auf der gesamten Wanderung in diesem Juni in Schottland – der Monat, der laut Wetteramt die geringsten Niederschläge aufweisen soll.

154 Kilometer folgen dem Symbol der Distel

Greg (Name geändert), ein rotblonder Mittzwanziger mit Dreitagebart, ist in einem bedauernswerten Zustand. Er kauert auf dem Weg im Trossachs National Park am Ufer des Loch Lomond mit durchweichtem Fleecepullover auf seinem Rucksack. Schuh und Socke hat er ausgezogen, den rechten Fuß mit einer dunkelblauen Sportbandage umwickelt.  
„Ich bin nicht wirklich gut vorbereitet auf die Tour“, bekennt der Schotte. Aber drei Etappen seit dem Start in Milngavie hat er schon hinter sich – und Greg will die Zähne zusammenbeißen: „Ich halte durch.“ Auch ein Gepäcktransport, wie ihn viele Unternehmen anbieten, komme nicht infrage. Ehrensache.
Seit dem 6. Oktober 1980 gibt es diesen ersten Fernwanderweg Schottlands, der dem Symbol der heimischen Distel folgt. Er verbindet auf 154 Kilometern Glasgows nördlichen Stadtteil Milngavie mit Fort Williams am Fuß des 1344 Meter hohen Ben Nevis, der höchsten Erhebung der britischen Insel.
Wer auf die Strecke geht, sieht wie im Brennglas alles, was die Landschaft Schottlands bietet, mit Ausnahme ihrer vorgelagerten Inseln: die landwirtschaftlich geprägten Lowlands, Seen, Wasserfälle, kahle Bergrücken, schroffe Täler und das Rannoch Moor, das größte zusammenhängende Moorgebiet das Landes.
Am Loch Lomond, dem mit fast 40 Kilometern Länge größten Süßwassersee des Landes mit wilden Felsformationen am Ufer, lebte im 18. Jahrhundert Clanchef Robert Roy McGregor. 1995 wurde seine Geschichte mit Liam Neeson in der Hauptrolle verfilmt. Der Film „Rob Roy“ schwelgt in eindrucksvollen Bildern aus den Highlands – vielleicht ein Grund dafür, warum es so viele Touristen gen Norden zieht.
Kurz vor Tyndrum, einst blühendes Zentrum der Bleigewinnung, stößt der Wanderer auf die Geschichte des Heiligen St. Fillan. Der aus Irland kommende Missionar war im 8. Jahrhundert in Schottland unterwegs und „hat viele  Spuren in Mythen und romantischen Erzählungen hinterlassen“, schreibt Autor und Wanderexperte Hartmut Engel.
Über 15 Jahre dauerte es, bis aus der Idee der durchgehenden Wegeauszeichnung Wirklichkeit wurde. Vor allem die Verhandlungen mit den Landbesitzern, über deren Eigentum die Wanderstrecke auf meist historischen Pfaden führt, fraß viel Zeit. „Vorhandene Wege wurden ausgebessert und befestigt, Markierungspfeile gesetzt und Brücken über Bäche und Flüsse gebaut“, berichtet Engel.
Aber es gibt so gut wie keine Schutzhütten. Und weil der Wanderweg meist historischen Pfaden der Viehtreiber oder einstigen Militärstraßen folgt, stehen fast keine Geschäfte oder Cafés entlang des Weges, mit Ausnahme kleiner Shops auf Campingplätzen.
Nach Schätzungen des Tourismusverbandes gehen jährlich zwischen 50 000 und 75 000 Wanderer einzelne Etappen oder den Weg in voller Länge. Deshalb ist es zwingend, Quartiere in Hotels, Bed & Breakfasts oder Jugendherbergen im Voraus zu buchen. Die Hauptsaison für Wanderer beginnt im Juli und geht bis September. Für das Frühjahr spricht allerdings auch, dass im Hochsommer die „Mitches“ ihr Unwesen treiben, winzige Mücken.
Zwei Tage nach seiner Rast am Trossachs National Park hinkt Greg die steinige ehemalige Militärstraße hinauf, auf der Regen in Bächen abrinnt. Ein Bild des Jammers. Den Hinweis, dass der Wanderweg gleich die Straße A 82 in Richtung Kinlochleven kreuzt, auf der ein Bus verkehrt, nimmt er lächelnd zur Kenntnis. Doch er beharrt: „Ich muss diesen Weg gehen!“ Und vermutlich schafft er es. Sicher, der West Highland Way kann anstrengend sein. Eine echte Qual ist er aber nicht. Außer für Greg.