Von Solange Wydmusch
Am 10. April hat Frankreich gewählt. Für die Stichwahl am 24. April gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Marine Le Pen und dem amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron. Im Gegensatz zu den Parlamentswahlen, die acht Wochen später stattfinden, ist die Wahl des Präsidenten eine sehr personenbezogene. Parteien waren auf den Plakaten der zwölf Kandidaten kaum zu sehen. Seit 1962 gilt das Motto, dass man sich im ersten Wahlgang austoben darf. Im zweiten Wahlgang, der Stichwahl, wird die Entscheidung meistens zwischen Konservativen und Sozialisten getroffen. Das ist nun zum dritten Mal nicht der Fall.
2002 wurde die Präsenz von Jean-Marie Le Pen im zweiten Wahlgang wie ein Erdbeben erlebt. Die nationalpopulistische Partei, verkörpert durch die Mitglieder der Familie Le Pen, gibt es seit 50 Jahren. Die Partei ist fest etabliert – besonders in ländlichen Regionen und Städten mittlerer Größe, die unter Entvölkerung und Perspektivlosigkeit leiden. Marine Le Pen hat das Land ein Jahr lang mit ihrem Bus bereist. Sie wirbt damit, viele Volksentscheide durchführen zu wollen. Das gäbe ihr die Möglichkeit, das Parlament zu umgehen, in dem sie wahrscheinlich keine Mehrheit bekäme.
Emmanuel Macron, dessen Bewegung die Logik der zwei sich gegenüberstehenden Lager zerstörte, galt 2017 als Erneuerer. Der Vorwurf, er sei elitär, hängt ihm nach. 2022 muss der Präsident nun für seine Bilanz stehen: für die Proteste der Gelben Westen und die vertagten Reformen, das „Strikte Ausgangsverbot“ während der Pandemie, sein Engagement für Europa und seine Übernahme der Präsidentschaft im Rat der europäischen Union. Seine Wahlkampagne vor dem ersten Wahlkampf war kurz und bescheiden.
Am Abend des 10. April stand Frankreich vor den Trümmern seines Parteiensystems: die Konservativen, die Grünen und die Sozialisten schafften nicht einmal den Sprung über die Fünfprozenthürde und stehen vor dem finanziellen Aus. Der dritte Mann dieser Wahl wurde der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der vor allem das Vertrauen der Jugend, vieler junger Akademiker und der Einwohner der Banlieues gewann. Im Grunde haben mehr als 50 Prozent der Franzosen ihre Stimme für links- oder nationalpopulistische, europafeindliche Vertreter abgegeben. Die tektonischen Verschiebungen in der politischen Landschaft Frankreichs sind noch im Gange.
Die Kirchen, die Vertreter des Islam und des Judentums bekennen sich alle zu einem offenen, in Europa verankerten Frankreich. Die Protestanten haben zehn Themen mit in die Wahlkampagne gegeben. Die Jüdischen Organisationen und die große Moschee von Paris haben jetzt dazu aufgerufen, den amtierenden Präsidenten zu wählen. Nach Ostern werden sicherlich noch weitere Stellungnahmen erfolgen. Seit Jahren gibt es in den Kirchen Bewegungen wie „Verstehen und sich engagieren“, die den Dialog mit den Rechtswählern suchen. In vielen Gemeinden fanden Gesprächsabende zum Thema Wahlen statt.
In einer Umfrage der Zeitung „La Croix“ wurde festgestellt, dass 40 Prozent der Katholiken, die regelmäßig in die Kirche gehen, ihre Stimme dem rechten Lager gegeben haben. Die meisten von ihnen wohnen auf dem Land, gehören der älteren Generation an und fühlen sich abgehängt. Die ältere Generation will die alte Welt zurück und das verspricht nur Marine Le Pen.
In den Osterpredigten wurden Weltoffenheit und die Würde aller Menschen betont. Das TV-Duell am 20. April ist ein erneuter Schlüsselmoment.
Am 24. April kommt es nun auf die Wahlbeteiligung aller Bürger an. Wie viele Franzosen werden trotz der Ferien den Weg zur Wahlurne finden? Die Beteiligung der Rechtswähler ist hoch. Studenten protestierten und prangerten an, dass es sich bei dieser Präsidentschaftswahl um keine Wahl handele, da sie beide Kandidaten ablehnen. Wie werden die Wähler von Jean-Luc Mélenchon bei der Stichwahl abstimmen? Und mit welcher Mehrheit kann Emmanuel Macron im Juni im Parlament rechnen, falls er die Wahl gewinnt?
Die Französin Solange Wydmusch ist Politologin, Soziologin und Unternehmerin in Berlin und Vorsitzende des Arbeitskreises Frankreich der EKBO.