Als in Hamburg ein siebenjähriger Junge beim Unfall mit einem Müllwagen stirbt, steht die Zeit still. Für die Familie, für Augenzeugen, für Feuerwehrleute, die nicht helfen konnten. „Wenn so etwas Schlimmes passiert, brauchen Menschen einen geschützten Raum für ihre Gefühle“, sagt Landesfeuerwehrpastorin Erneli Martens. Seit 25 Jahren leitet sie die die Hamburger Notfallseelsorge, die pro Jahr zu rund 350 Einsätzen gerufen wird.
Als Einzelkämpferin begann Martens vor 25 Jahren, die zentrale Notfallseelsorge für Feuerwehrleute und weitere Betroffene an der Feuerwehr Hamburg aufzubauen. Einfach war es nicht. „Frauen gab es kaum, das Thema war neu“, erinnert sich die 63-Jährige. Damals kursierten innerhalb der Feuerwehr noch Sprüche wie „Wer das nicht abkann, ist falsch hier“. Martens: „Über psychische Gesundheit wurde nicht viel geredet.“ Hamburg sei im bundesweiten Vergleich eher spät dran gewesen. Als Initialzündung für die systematische „Hilfe für Helfer“ gilt das ICE-Zugunglück im niedersächsischen Eschede 1998 mit 101 Toten.
Hamburger Notfallseelsorge: 300 Menschen helfen
Heute zählt das Hamburger Notfallseelsorge-Netzwerk rund 300 Pastorinnen, Pastoren, diakonische Mitarbeitende und ausgebildete Ehrenamtliche. Sie helfen Menschen bei erschütternden Ereignissen, plötzlichen Todesfällen oder schweren Unfällen. Bei Bedarf können sie rund um die Uhr von der Leitstelle der Feuerwehr alarmiert werden. „Das ist wie Erste Hilfe für die Seele“, sagt die Pastorin. „Wir suchen das Gespräch, um Worte für das Unaussprechliche zu finden“. Unabhängig von Kultur, Herkunft oder Religion. Auch Martens wird regelmäßig alarmiert und steigt dann in ihren roten Kleinwagen mit der Aufschrift „Feuerwehr“.

Vor ihren Einsätzen weiß sie nie genau, was sie erwartet. Meist hätten Betroffene innerhalb von Sekunden ihren inneren Halt verloren. Zu 85 Prozent fährt Martens in eine Wohnung, dort passieren die meisten Unfälle. Gerufen wird sie bei Suizid oder auch einem ganz natürlichen Todesfall. „Wenn eine alte Frau ihren Ehemann tot im Bett findet, braucht sie jemanden zum Reden“, sagt Martens. Besonders fordernd sei es, wenn Kinder einen Elternteil oder Eltern ein Kind verlieren.
Dabei reagiere jeder Mensch in einer Notsituation anders. „Ich versuche wahrzunehmen und zu spüren, was gebraucht wird“, erklärt Martens. Manche reden sich alles von der Seele, andere brauchen praktische Hilfe bei der Benachrichtigung von Angehörigen. „Oder sie müssen sich bewegen“, sagt Martens, die einmal stundenlang mit jemandem über einen Parkplatz gelaufen ist.
Notfallseelsorge bietet geschützten Raum
Sicher ist: „Es hilft Betroffenen, über das Geschehene zu sprechen.“ Martens will ihnen dafür einen geschützten Raum geben. Einen Raum, in dem alles gesagt werden kann, in dem Gedanken und Gefühle Platz haben, in dem zugehört wird – „ohne schnell wieder einen Deckel drauf zu machen“, sagt die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.
Mittlerweile wird ihre Arbeit bei der Feuerwehr hoch geschätzt, freut sich Martens, die auch an der Feuerwehrakademie über psychosoziale Themen unterrichtet. Ihr Netzwerk hat sie mit unzähligen Post-Its in ihrem Büro aufgehängt.
Wie oft seelische Hilfe im Unglück gebraucht wird, spiegeln die bundesweiten Zahlen der Evangelischen Notfallseelsorge wider: 30.482 Einsätze wurden 2023 in Deutschland gezählt, rund 92.000 Menschen seien in Krisen begleitet worden, so die Statistik. Bundesweit sind dafür den Angaben nach 8.238 haupt- und ehrenamtliche Kräfte unterwegs. Weil die Zahl der Pastorinnen und Pastoren seit Jahren zurückgeht, sind zunehmend mehr Freiwillige gefragt.
In Hamburg will Martens deshalb künftig interessierte Ehrenamtliche für die Notfallseelsorge ausbilden. Der erste Kurs startet im September. Wieder ein neues Projekt für die quirlige Pastorin, die ihren Ausgleich in der Natur findet. Sie liebt Spaziergänge am Wasser. Um Kraft für ihre Arbeit zu tanken, nimmt sie sich regelmäßig Auszeiten im Kloster. Nur der kleine Koffer voller Bücher muss mit. Martens: „Da kann ich dann alles loslassen.“