Der 29. September ist liturgisch der „Tag des Erzengels Michael und aller Engel“. Es reicht mir mit der Inflation von Engeln – scharenweise als kleine, mollige Engel-Putten auf Gräbern, auf T-Shirts, Einkaufstüten und Kaffeetassen, als „Blauer Engel“ oder „Eiskalter Engel“ im Kino. Und auch Hostessen-Engel und die „Gelben Engel“ auf der Autobahn. Und dann desgleichen noch für die Seelsorge und den Krankenbesuch: das golden erscheinende Messing-Engelchen zum Anfassen. Ich kann all diese Sinnentstellungen von Engeln nicht mehr als Glaubenshilfen wahrnehmen.
“Heerscharen” von Engeln
Eine viel schlimmere Entstellung allerdings ereignet sich 2002. Am 1. Juli stoßen am Himmel über Überlingen am Bodensee zwei Flugzeuge zusammen: ein Frachtflugzeug und ein russisches Passagierflugzeug mit 49 Schulkindern an Bord. Alle 71 Insassen der beiden Maschinen kommen ums Leben. Da Überlingen und der Bodensee von den Abstürzen nicht getroffen werden, ist mehrfach die Rede und Schreibe davon, ganze „Heerscharen von Schutzengeln“ seien tätig gewesen. Auch der Ausdruck „Heerscharen von Schutzengeln“ ist inzwischen inflationär. Was sind das für „Schutzengel“, die 49 Kinder und 22 weitere Flugzeuginsassen in den Tod fallen lassen, aber gleichzeitig ihre Flügel schützend über die Anrainer an der deutsch-schweizerischen Grenze halten? An sie will ich nicht glauben. Und darum halte ich es mit dem Kirchenvater des 19. Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Er meinte, das einzige, was als Lehre über die Engel gesagt werden könne, sei, dass die Frage, ob Engel überhaupt existieren, auf unser Leben keinerlei Einfluss haben dürfe. Man halte hinsichtlich der Engel besser den Mund.
Engel in der Bibel haben viel zu tun
Aber nun redet selbst Jesus von Engeln. Und in der Bibel kommen sie wiederholt vor. Allerdings ist von ihnen in den verschiedensten, mannigfachsten, sogar gegenteiligen Weisen die Rede. Beispielsweise postuliert der Psalm 91 Engel als Bewahrer vor allem Übel und aller Plage. Oder am Ende der Schöpfungsgeschichte werden Engel als „Cherubim“ – im Alten Orient sind das geflügelte Mischwesen bezeichnet, als Rächer der Sünde, die „mit dem flammenden, blitzenden Schwert den Weg zum Baum des Lebens versperren“ (1. Mose 3, 24). Es reimt sich nicht zusammen – überhaupt nicht.

Engel sind menschliche Boten
Mir ist hilfreich, dass auch nach der Bibel Gott zur Durchsetzung seines Willens und zur Kundgabe seines Wortes menschliche Boten zu gebrauchen vermag, die „Engel“ genannt werden können. So wird zum Beispiel Johannes der Täufer als „Angelos“ (Bote) bezeichnet (Markus 1,2). Daran möchte ich festhalten, dass Gott uns seine Nähe und Hilfe spürbar mitteilt – auch mit Hilfe von Menschen, die uns dann wie Engel vorkommen. „Man weiß eben niemals vorher, wie ein Engel aussieht“, sagt der jüdische Theologe Martin Buber. Es gibt keine biblisch begründbare Lehre von Engeln. Und wenn in der Schrift von „Engeln“ die Rede ist, dann ist in allen Fällen klar: Sie sind Gott dem Vater, dem auferstandenen Christus und dem Heiligen Geist „untertan“.
Eigene Engelserfahrungen
Ich meine: Engel sind keine selbstständigen Wesenheiten und eigenständige Persönlichkeiten und Subjekte. Sie sind Symbole und Gleichnisse für die Nähe Gottes selber, der am Dornbusch und in Christus seinen Namen nennt – JAHWE: „Ich bin doch da. Ich bin bei Euch“ (Matthäus 28,20b). Und so gibt es auch in meinem Leben Erfahrungen, dass mir Menschen zu Engeln geworden sind. In einer schweren Krankheitssituation erfahre ich die Zuwendung eines Gütersloher Arztes und einer Münsteraner Ärztin als wunderwirkendes Handeln wie von Engeln. Es führt jedoch in die Irre, wenn ich das Eingreifen himmlischer Boten nicht nur für mich selber annehme, sondern es gewissermaßen objektiviere und anderen mitteile, da oder dort sei mir unzweifelhaft ein Engel aus der Höhe gekommen und gewiss käme der auch zu ihnen. In die Pläne der Geschicke durch Gott kann niemand Einblick nehmen. Ich darf sie glauben, aber nicht definieren.
Eine Frage bleibt offen
Die schwerste Frage in Bezug auf die Annahme, Engel seien im Spiel lautet: „Warum leben und sterben so, so viele Kranke, Hungernde, Kriegsversehrte, Kinder, Verunglückte, Todkranke und verzweifelt Depressive – alle offenkundig ohne Schutzengel?“ Diese Frage kann ich nicht beantworten. Sie ist die schwerste Frage unseres Glaubens. Und ich hoffe so sehr, dass Gott einmal eine Antwort gibt. Eine solche Antwort möge es sein, die das geschehene Leid ausgleicht, ja sogar im Nachhinein aufzuheben vermag. Vielleicht braucht ER ja dafür auch Engel.