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Empathie-Müdigkeit: “Ich kann das nicht mehr ertragen”

Fachkräftemangel und hoher Krankenstand: Gerade in sozialen Berufen wie Pflege oder Jugendhilfe sind Mitarbeitende häufig psychisch erschöpft – woran das liegt und was dagegen getan werden kann.

“Ich habe das Gefühl, schreien zu wollen: ‘Hör auf, mich auszusaugen und geh weg!!! Ich kann das nicht mehr ertragen. ERSCHÖPFT'”, steht in einem Post auf der Plattform Reddit zum Thema “Empathie-Müdigkeit”. Insbesondere Menschen in helfenden Berufen wie Lehramt, Sozialpädagogik oder in der Pflege leiden unter chronischer Erschöpfung bis zu dem Punkt, welcher einem Burnout ähnelt.

Psychisches Leiden, das sich körperlich niederschlägt, und einen entsprechend hohen Krankenstand beobachten Führungskräfte in sozialen Bereichen mit Sorge. “Ich merke es schnell, wenn Kollegen durch die vielen Nöte in der Jugendhilfe müde sind”, sagt Pia Keller, Leitung des An-Instituts für Psycho-Soziale Gesundheit (IPSG) der Hochschule Coburg. Die Wahl des Berufs bringe es mit sich, dass Menschen sehr offen für das Befinden anderer seien.

Ein “Zuviel an Einfühlen in andere” ist oftmals die Folge, erläutert die Sozialpädagogin. Wer zu viel andere spüre, nicht sich selbst, für den sei das ermüdend und führe zur Erschöpfung. Mehr noch: “Empathie-Müdigkeit sehe ich als einen Teil einer insgesamt gefühlten Überforderung”, ordnet Keller ein.

Was in der Jugendhilfe gilt, gibt es auch im Pflegebereich. Wenn beispielsweise eine Bewohnerin im Pflegeheim zur Toilette müsse und die Antwort laute “Jetzt nicht, es gibt Mittagessen”, dann liegt was im Argen, so Vera Lux, Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe und langjährige Pflegedirektorin. Denn die Bewohnerin fühle sich mit ihrem Bedürfnis nicht ernstgenommen und glaube, sie müsse nun bis nach dem Mittagessen warten. Und die Pflegekraft stehe unter Zeitdruck, um allen Bewohnern ein warmes Mittagessen zu reichen. Die Zeit und das Wissen fehlen laut Lux häufig, um auch in stressigen Situationen passend auf die Bedürfnisse der Bewohner oder Patienten zu reagieren, ohne die eigenen Bedürfnisse permanent zu ignorieren.

Problematisch werde es, wenn die Kommunikation mit Patienten wie in der beschriebenen Szene zu knapp und unverbindlich ausfalle, so Lux. Viele Pflegekräfte nähmen mit viel Enthusiasmus ihre Arbeit auf. Sie würden in ihrem Beruf dann aber häufig mit erhöhten empathischen Anforderungen konfrontiert, dies sei belastend. “Pflege ist Beziehung; Beziehungen mit Patienten kann ich nur aufbauen, wenn ich Emotionen zulasse und empathisch bin – aber eben nicht unendlich”, erklärt Lux. Gute Absprachen seien notwendig, um Vertrauen zu den zu Pflegenden aufzubauen und die teils intimen Pflegeaufgaben professionell ausführen zu können.

“Es braucht daher die Reflexion im Umgang mit der eigenen Empathie”, sagt Lux. Sonst entstehe bei empathischen Pflegekräften das schlechte Gefühl, ihrer Rolle nicht gerecht zu werden. Dazu komme, dass sich vom Empathie-Müdigkeit betroffene Pflegende häufig schlecht vom Berufsalltag abgrenzen würden.

Nicht jeder Mensch sei dazu in der Lage sich mit seinen Bedürfnissen und seinen innewohnenden Motiven zu beschäftigen, erklärt Keller. Die Institutsleitung hat ein Konzept der Mitarbeitenden-Fürsorge in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt. Auslöser dafür war der Fachkräftemangel im Bereich. Sie habe Mitarbeitende von zehn Maßnahmen der Jugendhilfe befragt und entsprechende Hilfen geschaffen.

Begegnungsräume sollen Austausch ermöglichen, etwa darüber, ob jemand Unterstützung benötige oder Rücksichtnahme. Die Kollegen jeder Maßnahme treffen sich wöchentlich im Team, um diese Fragen zu stellen und gemeinsam mit schwierigen Situationen umzugehen. Zum Paket gehören außerdem eine Willkommenskultur im Team, verlässliche und wiederkehrende Strukturen sowie gemeinsame Feste, eine wertschätzende Führung und Fortbildungen in psychosozialer Therapie.

Mit einem ähnlichen Ansatz soll auch Pflegekräften geholfen werden. In Trainings schult Pflegewissenschaftler Andreas Kocks reflektierte Empathie, um psychischen Belastungen vorzubeugen. Unter anderem lehre er die sogenannte Selbst-andere-Differenzierung – also die Trennung zwischen eigenen Gefühlen sowie Bedürfnissen und denen des Patienten. Diese Trennung sei für Menschen in Gesundheitsberufen wichtig, um arbeitsfähig zu bleiben. Darüber hinaus vermittelt er, aus einer “Opferrolle” heraus in eine “Entscheiderrolle” zu kommen.

Durch Qualifikation und Bildung ändere sich das Miteinander in der Hierarchie – durch mehr Kompetenz im Umgang würden auch Belastungen abnehmen. Dabei sei besonders wichtig, Gefühle und Bedürfnisse zwischen Patienten und Pflegekraft klar wechselseitig im Gespräch zu klären. Wenn ein Patient immer wieder klingelt, könne dieser Angst haben oder einsam sein und ein Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit haben, so Kocks. “Mit gegenseitigen Verständnis wird die Lösungssuche eine andere und auch nachhaltige Qualität bekommen”, erklärt der Wissenschaftler. Für den Moment kann es ausreichen, zu sagen, “ich bin in 15 Minuten für Sie da”.

Wunsch des Experten und der Expertinnen ist es, von Anfang an in Ausbildungen und Studiengängen das entsprechende Wissen zu vermitteln, so dass es flächendeckend alle Menschen in helfenden Berufen erreiche und Empathie-Müdigkeit vorbeuge. Damit das Gefühl der chronischen Erschöpfung erst gar nicht entsteht.