Immer wieder brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, etwa, weil sie die Beziehung nicht mehr aushalten. Solche Abbrüche hätten immer zwei Wahrheiten, sagt die Psychotherapeutin Claudia Bechert-Möckel. Sie beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Beziehungsfragen, darunter auch Kontaktabbrüchen zwischen Eltern und Kindern. „Meist hat familiäre Entfremdung eine lange Vorgeschichte“, sagt sie. Ihr Podcast „Leben-Lieben-Lassen“ gehört zu den meistgehörten Angeboten im Bereich Beziehung und Persönlichkeitsentwicklung.
epd: Frau Bechert-Möckel, Sie beschäftigen sich in ihrer Tätigkeit als Persönlichkeits- und Beziehungscoach seit über zehn Jahren mit Beziehungsfragen, darunter auch Kontaktabbrüchen zwischen Eltern und Kindern. Welche Erfahrungen machen Sie?
Claudia Bechert-Möckel: Familiäre Entfremdung hat meist eine lange Vorgeschichte. Der Kontaktabbruch hat immer zwei Seiten, daher gibt es auch zwei Wahrheiten. Aus Sicht der Eltern kommt ein Kontaktabbruch oft unvorbereitet. Die meisten erwischt das eiskalt. Ich höre von Eltern oft, dass doch eigentlich alles in Ordnung gewesen sei und plötzlich Vorwürfe kamen, auf die dann ein Kontaktabbruch folgte. Aus Sicht der Kinder sieht die Sache oft anders aus. Da sind Themen, die bereits in der Kindheit anfangen. Meistens handelt es sich hierbei nicht ausschließlich um Missbrauch und Gewalt, sondern eher um das Gefühl, nicht genug geliebt zu sein, nicht gesehen zu werden und nicht so sein zu dürfen, wie man wirklich ist.
epd: Wie sieht es aus Sicht der Eltern aus?
Bechert-Möckel: Eltern beteuern, dass sie stets alles für ihr Kind getan und es sehr geliebt hätten. Man muss jedoch bedenken: Eltern sind auch Menschen und machen Fehler. Zudem übertragen sie häufig die eigenen Erfahrungen und Prägungen auf ihre Kinder. In früheren Generationen war Erziehung häufig strenger und autoritärer, heute ist sie viel bedürfnisorientierter, und das Kind wird von klein auf als Individuum mit eigener Ausrichtung betrachtet.
epd: Was geht in erwachsenen Kindern vor, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen?
Bechert-Möckel: Erwachsene hadern oft viele Jahre lang mit ihrer Entscheidung. Bevor Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist meist schon sehr viel passiert. Sie kämpfen häufig mit sich selbst, haben Schuldgefühle. Der entscheidende Auslöser ist dann oft ein einschneidendes Lebensereignis wie der Auszug in eine eigene Wohnung, die Geburt der eigenen Kinder oder der Beginn einer Psychotherapie. Für die Kinder ist der Kontaktabbruch mehrheitlich die letzte Instanz. Dahinter steckt der Gedanke: So wie diese Beziehung ist, kann ich sie nicht mehr aushalten.
epd: Wieso gewinnt das Thema Kontaktabbrüche zwischen Eltern und Kindern aktuell an Aufmerksamkeit?
Bechert-Möckel: Das liegt daran, dass das Tabu rund um Kontaktabbrüche in Familien abnimmt. Das gesellschaftliche Bild von Familie hat sich massiv verändert. Die Vorstellung, Blut sei dicker als Wasser und die Bindung mit den Eltern müsse um jeden Preis aufrechterhalten werden, verblasst zunehmend. Das Thema Bindung und transgenerationale Weitergabe von Traumata werden öffentlich diskutiert. Die individuellen Bedürfnisse sind mehr in den Vordergrund gerückt, wodurch Menschen vermehrt über Kontaktabbrüche sprechen. Entfremdungen zwischen Eltern und Kinder haben aber immer schon stattgefunden.
epd: Wie viele Kontaktabbrüche zwischen Eltern und Kindern gibt es deutschlandweit?
Bechert-Möckel: Schätzungen von Soziologen zufolge haben rund 100.000 erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.
epd: Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Bechert-Möckel: Viele Betroffene sprechen nicht darüber. Das Thema ist mit wahnsinnig viel Scham verbunden. Eltern, deren erwachsene Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben, sind wie in einer Schockstarre. Es ist wie eine Bescheinigung darüber, ein schlechter Mensch zu sein. Im ersten Moment gehen die meisten in die Rechtfertigung. Ich höre häufig Sätze wie: Aber ich war doch eine gute Mutter, ein guter Vater. Ich habe doch immer alles für mein Kind getan. Betroffene verfielen oft in ein Gedankenkarussell.
epd: Wie schaffen es Betroffene aus diesem Gedankenkarussell heraus?
Bechert-Möckel: Ich versuche, Betroffene aus dieser Spirale zu befreien, indem ich ihnen erkläre: Es geht nicht um Schuld, sondern darum zu verstehen, dass das Kind eine völlig andere Ansicht und Wahrheit hat als man selbst. Wenn man das akzeptiert, kann man anfangen, sich für die Sichtweise des Kindes zu interessieren. Verfallen Eltern hingegen in eine Schleife der Rechtfertigung, kommt bei den Kindern oft an: Das hat keinen Sinn. Egal, was ich sage, ich werde nicht gehört. Erwachsene Kinder wünschen sich oft Einsicht und eine Entschuldigung. Wenn Eltern also zeigen, dass sie offen sind für die Schilderungen ihrer Kinder und nicht stur bei ihrer Meinung verharren, kann manchmal ein Kontakt wieder möglich werden.