“Laufen ist für Sie utopisch” – diese niederschmetternde Prognose von seinem behandelnden Neurologen bekam Heiko Neumann kurz nach seinem Schlaganfall vor sieben Jahren. “Dem zeig ich’s”, war seine trotzige Reaktion.
Vor sieben Jahren hatte Heiko Neumann nur einen Wunsch – wieder am Rhein spazieren gehen zu können. Heute kann er dort wieder mit seiner Frau Sabine zu Fuß die Frühlingssonne genießen. Was so selbstverständlich klingt, war es lange nicht. Denn der heute 57-jährige Bonner lag nach einem schweren Schlaganfall so gut wie bewegungsunfähig in der Rehaklinik. Im März 2018 war Heiko im Supermarkt zusammengebrochen. Uniklinik, Intensivstation, dann Frühreha und Rehaklinik.
Die Ärzte machen ihm damals keine Hoffnung; er würde ein Pflegefall bleiben. Seine Reaktion schwankt zwischen Verzweiflung und Wut. So leicht will er sich nicht mit dieser Prognose abfinden – und beginnt einen zähen und anstrengenden Kampf.
Krankenschwester Melanie Schieck ist eine der ersten Pflegekräfte, die ihn in der Reha betreut, als der noch ohne selbstständige Atmung auf ihrer Station ankommt. Sie erlebt hautnah alle Höhen und Tiefen mit – auch, wie er sich wieder kleinste Bewegungen erarbeitet. Über die Zeit entsteht eine tiefe Vertrauensbasis.
Ein kleiner Glücksmoment, als Heiko ein paar Wochen später wieder den großen Zeh bewegen kann. Ehefrau Sabine spürt bei allen Einschränkungen ihres Mannes dessen großen Kampfgeist – “da war noch Leben drin”. Er baut seine Rumpfmuskulatur auf, lernt wieder aufrecht im Rollstuhl zu sitzen.
Kunsttherapeutin Andrea Cremer erinnert sich noch gut an die Zeit mit Heiko, “er war einer meiner ersten Patienten in der Rehaklinik”. Sie habe ihn zweimal pro Woche gesehen – “am Montag fragte ich mich immer, ob ich ihn am Donnerstag noch mal sehe, ob er wieder auf der Intensivstation liegt oder es nicht geschafft hat”.
Cremer macht ihm Mut, auch wenn er selbst mit der gesunden rechten Hand nach eigenen Worten nur “Krickelkrackel” malt – “nach ein paar Wochen konnte man Erfolge sehen”. Bei seiner Entlassung verspricht Heiko seiner Therapeutin, nicht aufzugeben, “auch wenn es nach dem geschützten Alltag in der Reha zu Hause Rückschritte geben wird”. Cremer weiß: “Es braucht viel Eigendisziplin, mit dem, was er in der Reha gelernt hat, weiterzumachen”.
Ende August 2018 kommt Heiko wieder nach Hause, wird von Sanitätern im Rollstuhl die 27 Stufen in seine Wohnung im zweiten Stock getragen. Wie er die je wieder verlassen soll – völlig unklar. Seiner Frau gelingt es, gute Ergo- und Physiotherapeuten zu finden. Heiko fängt an zu trainieren, lernt in kleinsten Etappen, das linke Bein aufzubauen und wieder erste Schritte zu gehen. “Er ist unglaublich ehrgeizig, das hat ihm den Arsch gerettet”, sagt Sabine. Seit 33 Jahren sind sie und ihr Mann zusammen, “in guten und in schlechten Zeiten”.
Hatte der er frühere Finanzbeamte vorher sehr ungesund gelebt – “ich war mit über 130 Kilogramm buchstäblich ein schwerer Fall und habe gelebt, als ob es noch ein zweites Leben gibt” -, saugt er nun alles zur Schlaganfall-Therapie auf. Dann sieht er eine Fernsehdokumentation über Neuroplastizität. Diese geht von einem formbaren Gehirn aus und davon, dass intakte Teile Funktionen beschädigter Gehirnareale übernehmen können. “Das hat sich mir eingebrannt”, erinnert sich Heiko an einen Schlüsselmoment auf seinem Weg zurück ins Leben.
Die erste gemeisterte Etappe: 2019 kann er mit Unterarmstützen ein paar Schritte laufen, etwa bei der Beerdigung seiner Schwiegermutter. Er besucht seinen behandelnden Arzt in der Rehaklinik. “Alle wollten mich unbedingt sehen; es sind viele Tränen geflossen”, erinnert sich Heiko. Nicht nur dort gilt er inzwischen als Vorzeigepatient.
2022 wird er für den Motivationspreis der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe nominiert. 2024 fährt er erstmals alleine mit der Bahn nach Duisburg und Berlin. Und vor wenigen Monaten – knapp sieben Jahre nach dem Schlaganfall – kann er zum ersten Mal, vollbepackt mit Einkaufstüten, wieder die Treppe zu seiner Wohnung hochlaufen.
Auch wenn die Entwicklung bergauf geht – Rückschläge und Dämpfer bleiben nicht aus. Noch immer geht Heiko zur Physiotherapie, kann den linken Arm nur sehr eingeschränkt nutzen, hat ein “unrundes Gangbild” und Pflegestufe 3. Aber Heiko hat gelernt, mit Einschränkungen zu leben und sie zu akzeptieren. Ob er ein anderes großes Ziel, das Autofahren, erreichen kann, ist ungewiss. Ein Neurologe hat ihm zuletzt noch davon abgeraten. Da heißt es Geduld haben; “das geht nur, wenn niemand zu Schaden kommt”, sagt Heiko.
Das Thema Neuroplastizität hat ihn nicht mehr losgelassen; er hat eine Online-Fortbildung zum “Potenzialentfaltungscoach nach Gerald Hüther” absolviert, einem bekannten Neurobiologen. Mit dieser fachlichen Grundlage leitet er nun eine Schlaganfall-Selbsthilfegruppe und berät Betroffene und ihre Angehörigen. Inzwischen ist er ein Vorbild für Menschen mit ähnlichem Schicksal. 2024 reist er nach Salzburg, spricht dort vor 100 Leuten. Die Reaktionen seien ergreifend gewesen, “meine Geschichte berührt unglaublich viele Menschen und macht ihnen Hoffnung”.
Seinen linken Unterarm ziert ein Tatoo – “Memento mori – vita è bella”, zu deutsch also: “Sei dir der Sterblichkeit bewusst – das Leben ist schön”. Neumann lebt nun gesünder, hat stark abgenommen und benötigt keine Diabetesmedikamente mehr. Während er früher in seinem Job Markenklamotten getragen hat, sind ihm Äußerlichkeiten heute nicht mehr wichtig. Er steht zu seiner strubbeligen Frisur und trägt nur noch praktische Sachen wie Fleecejacken. Seine Prioritäten im Leben haben sich verschoben – “was wichtig war, ist nicht mehr wichtig”; heute weiß er indes, “wie wichtig Freundschaften sind”.
Der Bonner sagt aus eigener Erfahrung: Da geht noch was; vermeintliche Grenzen existieren für ihn nur im Kopf. “Das Schöne ist, dass man noch immer was rausholen kann.” Zugleich seien viele Mediziner weiterhin überzeugt von der lange prägenden Vorstellung, “dass alles, was nicht nach einem Jahr wiederkommt, verschwunden ist”. Neumann ist ein Beispiel dafür, dass das nicht immer zutrifft. In seinem YouTube-Kanal, den er seit 2019 hat und seine Fortschritte dokumentiert, wird er nicht müde, diese Botschaft zu teilen: “Leute, es ist möglich, Ihr könnt es auch schaffen”.
Kunsttherapeutin Andrea Cremer nimmt den Bonner heute als leuchtendes Beispiel für Patienten, “die aufgegeben haben und meinen, das wird nicht mehr”, sagt die 50-Jährige. “Es ist toll zu sehen, was er sich alles zurückerarbeitet hat.” Zweimal im Jahr hält er Vorträge in seiner alten Rehaklinik, mit Cremer ist Heiko inzwischen per Du.
Für Krankenschwester Melanie Schieck, die mit Heiko und Sabine Neumann längst eine enge Freundschaft verbindet, ist es “ein Wunder, dass sich jemand so nach einem Schlaganfall erholt”. Dass er entgegen der klaren ärztlichen Prognose wieder so viel unternehmen kann, ist für die 43-jährige, gläubige Frau “wie eine Auferstehung”.
Heiko möchte dennoch “nicht als Guru gelten”, auch wenn er inzwischen deutschlandweit Vorträge hält. Zuletzt hat er an ärztlichen Richtlinien der Deutschen Schlaganfall-Hilfe mitgearbeitet und gehört dem Schlaganfall-Beirat der Charité in Berlin an. Heiko ist überzeugt: “In jedem Leben steckt ein Sinn und in jedem Überleben eine Aufgabe”.