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„Ein schales Gefühl ist es schon“

Nach 35 Jahren Pastorenleben geht Rainer Schild in den Ruhestand und zieht zurück nach Eggesin. Das Pfarramt in Leopoldshagen wird nun aufgelöst.

Rainer Schild geht nach 35 Jahren Dienst in den Orten am Haff in den Ruhestand.
Rainer Schild geht nach 35 Jahren Dienst in den Orten am Haff in den Ruhestand.epd/Christine Senkbeil

Eggesin/Leopoldshagen. Alte Gemeindebriefe und Plakate fallen Rainer Schild dieser Tage zuhauf in die Hände. „Ach. Das haben wir ja auch noch gemacht.“ Was sich so ansammelt in einem langen Pastorenleben.

Zwischen all den Erinnerungen, die dem frisch pensionierten Leopoldshagener Pastor beim Räumen in die Hände fallen, wandern gerade in dieser Zeit seine Gedanken oft noch einmal zurück an den Anfang. Sein Gesichtsausdruck ist fröhlich, wenn er davon erzählt. Von seiner Kindheit in Potsdam-Babelsberg, wo er sogar mal bei der DEFA eine kleine Komparsenrolle inne hatte, dann aber das Vorspiel für einen großen Film als Zeitungsjunge verpatzte. Aber mehr Interesse als für die Schauspielerei hatte er ohnehin für die Chemie: Diese Wissenschaft war sein großer Studienwunsch.

Irgendwie gelang es, dass er sein Abi an der Spezialschule in Merseburg machen konnte, benannt nach „Carl Schorlemmer“, dem Chemiker. „Eine tolle Zeit“, sagt er über die zwei Jahre Internat ab 1975. Soviel Austausch. Soviel Kultur. Und natürlich: die Evangelische Studentengemeinde ESG. Geleitet damals von einem weiteren Schorlemmer, nämlich Friedrich – dem Theologen. Für den jungen suchenden Rainer gewannen die Gespräche mit ihm immer mehr an Bedeutung, und in der Jungen Gemeinde wurden Fragen diskutiert, die ihn immer intensiver beschäftigten. „Willst du nicht Theologie studieren?“, stand bald im Raum. Und tatsächlich verloren die Tabellen und Formeln des Carl Schorlemmer schlussendlich gegen die sehr viel lebendigeren Fragen nach Sein und Sinn eines Friedrich Schorlemmers – Rainer Schild entschied sich gegen den Chemie-Studienplatz, der über die Spezialschule sogar ohne dreijährigen Wehrdienst garantiert gewesen wäre. Ein mutiger Schritt.

„Ich entschied mich für das Sprachenkonvikt in Berlin“, sagt er. Einer kirchlichen Schule, an der außerhalb der staatlichen Kontrolle ein Theologiestudium absolviert werden konnte. „Mir gefiel es, dass es hier freier und selbstverantwortlicher zuging als an vielen Unis.“

„Der Lange mit den gestreiften Schlaghosen“

Doch die Rechnung war ohne den Wirt gemacht. Schon einen Monat nach Studienbeginn wurde er im November 1977 zur Armee eingezogen: ins verlassene und verrufene „Wald-Meer, Sand-Meer, gar nichts mehr“ – nach Eggesin-Carpin bei Ueckermünde. Ein Schlag, den auch kirchliche Bemühungen nicht mildern konnten. „Wehrdienstverweigerung kam für mich damals nicht infrage“, sagt er – und so biss er in den sauren Apfel. Der sich schlussendlich doch als ausgesprochen süß herausstellte. Denn hier gab es eine Junge Gemeinde – und darin Monika … „Pastor Anlauf in Eggesin machte eine ganz großartige Jugendarbeit, hier waren mitunter 20 Jugendliche, auch Soldaten kamen – wir haben sogar Gottesdienste in Uniform gemacht.“

Der Soldat hatte Glück, er bekam bei der Armee die Position des sogenannten „Spießschreibers“, durfte also Ausgangszettel bescheinigen und – etwas priviligiert – selbst am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag raus. „Ich durfte später sogar in Zivilklamotten im Ort herumlaufen, das war ein Privileg. Sowas kann man sich heute nicht mehr vorstellen!“ Die Wechselsachen hatte er am Ziel seiner Ausgänge: Dem Eggesiner Pfarrhaus bei Familie Anlaufs. „Der lange mit den gestreiften Schlaghosen“ ging hier ein und aus. Und als er aus einem dreiwöchigen Feldlager einen sehr anrührenden Brief über seine Gedanken in vereister Natur schickte, las Pastor Anlauf ihn der Jungen Gemeinde vor. „Der Brief hat Monika sehr beeindruckt“, verrät Rainer Schild noch immer sehr stolz. „Sie fand ihn poetisch.“ Dass er nun ausgerechnet von „dem mit den gestreiften Schlaghosen“ kam, erfreute sie anfangs nicht. Doch im Juni 78 wurden die beiden ein Paar. „Dann war ich allerdings nicht mehr so oft im Pfarrhaus“, verrät er. Sondern mehr bei ihr. In ihrem Elternhaus: in dem die beiden nun im Ruhestand übrigens wieder wohnen werden…

1986 Einzug in das alte Küsterhaus

Nach der Armeezeit studierte Rainer Schild sehr zielstrebig weiter, neun Studien-, ein Examens-Semester. Nun schon sozusagen unter pommerscher Kirchenflagge: „Mir war klar, dass ich hierbleiben will“, sagt er. 1980 wurde der Sohn geboren. Seine Ehefrau arbeitete als Ökonomin im medizinischen Versorgungszentrum. Er absolvierte sein Vikariat in Ueckermünde – und beide warfen schon früh ein Auge auf das Leopoldshagener Pfarramt: bis der Sohn zur Schule kommt, wollten sie es schaffen, seßhaft zu sein. Es klappte wie am Schnürchen: 1985 kam die Tochter zur Welt, doch schon 1986 konnten sie in das Pfarrhaus Leopoldshagen ziehen – das alten Küsterhaus.

„Dann bin ich nicht mehr von der Stelle gerückt“

Am 1. August 1986 wurde Rainer Schild Pastor der Kirchengemeinde, und im September wurde der Sohn eingeschult. „Und dann bin ich da nicht mehr von der Stelle gerückt“, ergänzt er lachend. Immer an einem Ort? „Einmal wollten wir nach Greifswald. Aber unsere Kinder erklärten uns für verrückt – sie waren schon größer und hier sehr verwurzelt.“ Später nach Pasewalk, aber das zerschlug sich. „Und so blieben wir.“

Bereut hat er nichts. Und immer waren sie sich einig. Dass seine Frau ganz mit als Pfarrfrau einsteigt, selbst Kreise leitet und immer wieder Ideen liefert. „Wir waren eine Einheit, ein tolles Team“, sagt er. Sie größtenteils unbezahlt, und natürlich muss man so ein Leben mögen. Praktisch keine Trennung zwischen Privat- und Dienstzeit und –wohnraum (!). „Sitzungen des Gemeindekirchenrats/Kirchengemeinderats fanden meist in unserem Wohnzimmer statt. Das war normal.“ Sie trugen es.

Bereits im Vikariat hatte Schild Mönkebude betreut, um von vornherein beide Kirchengemeinden ab 1986 pfarramtlich von Leopoldshagen aus zu betreuen. Und ab 1998 übernahm er die Verantwortung für die Dörfer der Kirchengemeinde Altwigshagen. Zu tun war immer. Gern erinnert er sich an die Wendezeit, als in Zusammenarbeit mit Pastor Jehsert in Ueckermünde die Friedensandachten kamen, der Runde Tisch entstand, die Stasi besetzt wurde, die Demos liefen, bei Eiseskälte. „Und im Lichterkasten vor der St.Marien-Kirche brannten Tag und Nacht Kerzen.“ Großartig war auch die viel engere Zusammenarbeit zwischen Pastoren und Katecheten, sagt er. Die Vernetzung von Ueckermünde und Leopoldshagen legten Jehsert und Schild in dieser Zeit an.

„Von 1000 Gemeindegliedern haben wir noch 500“

Dass sein Pfarramt am Ende seiner Laufbahn aufgelöst wird: „Ein schales Gefühl ist es schon“, gibt er zu. Doch es war abzusehen. „Von 1000 Gemeindegliedern haben wir noch 500. Und das Pfarrhaus müsste aufwändig umgebaut werden, um heutigen Ansprüchen zu genügen. Das wäre nicht zu rechtfertigen.“ Ein Wermutstropfen an seinem Scheiden ist, dass alle Kreise und Gruppen durch Corona praktisch sang- und klanglos verschwanden, kein Abschied, Übergang möglich war. Der Männerclub. Der Kindernachmittag. Die Häkelschwestern („und ich als Häkelbruder“). Doch genossen hat Rainer Schild in den vergangenen Wochen die Abschiedsgottesdienste in allen Dörfern. Er bekam Fotobücher und Geschenke, gute Worte von Weg­begleitenden. „Und dann sitzen da so manche, die ich schon getauft und konfirmiert habe“, berichtet er gerührt.

Am Sonntag, dem 27. März, wird der Verabschiedungs-Gottesdienst gefeiert. In Ueckermünde – damit mehr Menschen hineinpassen. „Wir bekommen leider gar nicht alle rein“, sagt er. Nach 35 Jahren Dienst … Nur ein Pastor in Leopoldshagen hatte mehr: 43 Jahre. „Und ich war nun der letzte in Leopoldshagen.“