Es ist Nacht. Den ganzen Tag über hat der junge König Salomo unzählige Schlachtopfer dargebracht, um seinen Amtsantritt zu begehen. Nun in der Dunkelheit erscheint ihm sein Gott und gewährt ihm einen Wunsch. Salomo erbittet sich weder Reichtum noch Lebensfülle, sondern einzig dies: „Gib deinem Knecht ein hörendes Herz!“ (1. Könige 3, 9).
Kaum eine Szene eignet sich wie diese, das „Hören“ im Alten Testament in seinen unterschiedlichen Facetten zu beleuchten. Zweierlei lässt sich sogleich ablesen: Der Mensch im Alten Testament hört nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen. Zudem ist das hörende Herz eine wesentliche Ausstattung für den gerechten Herrscher. Beide Beobachtungen wollen erklärt sein.
Wer mit dem Herzen hört, zeichnet sich nicht etwa durch besondere emotionale Empfänglichkeit oder Empathie aus. Das Herz ist im Alten Orient das zentrale Denkorgan des Menschen. Wer ein hörendes Herz hat, ist entsprechend in der Lage und willens, in seinem Denken und Trachten auf das zu hören, was andere ihm sagen. Er vertraut stärker auf die von anderen ergehende Weisung als auf eigene Impulse und Vorstellungen.
Mit der Bitte um das hörende Herz wird der sprichwörtlich weise König Salomo erzählerisch auf die Spur gesetzt: Auch er ist nicht aus sich selbst heraus klug, sondern nur insofern er die göttliche Gabe besitzt, mit dem Herzen nicht eigene Ideen zu verfolgen, sondern auf Gott und seine Untertanen zu hören.
Das Interesse des weisen und mächtigen Königs Salomo an einem hörenden Herzen ist programmatisch für eine Gesellschaft, in der sich das Verhältnis der Generationen zueinander und das Verhältnis aller zu ihrem Gott als wesentlich hierarchisch und auf dem Hören beruhend darstellt. Gehorsam und Erhörung bedingen sich als zwei Ausprägungen des Hörens gegenseitig: Der Jüngere hört auf den Älteren, der Schüler auf den Lehrer, das Kind auf die Eltern – dabei sollte der so Gehorsame zugleich darauf vertrauen können, selbst mit Bitten und Bedürfnissen erhört zu werden. Denn demjenigen, der Gehorsam fordern darf, steht die Pflicht an, die zu erhören, die ihm anvertraut sind. Was für das Hören von einander über- oder untergeordneten Menschen gilt, wird im Alten Testament auch für das Verhältnis zu Gott angenommen. Er erhört den Menschen, der Mensch schuldet ihm Gehorsam.
Das Konzept einer Gemeinschaft von Aufeinander-Hörenden ist störanfällig. Von Salomo etwa wird berichtet, wie er sein Herz anderen Göttern zuwendet, auf die Falschen hört und vom Weg abkommt (1. Könige 11). Besonders nachdrücklich wird die Störung der Gegenseitigkeit von Gehorsam und Erhörung etwa im Jeremiabuch thematisiert. Immer wieder fordert der Prophet auf, zu hören, immer wieder erfährt er Ignoranz und Ungehorsam. Gottes Reaktion ist die Weigerung, die Gebete seines Volkes zu hören: „Und sie werden zu mir schreien, ich aber werde nicht auf sie hören“ (Jeremia 11, 11).
Diese Ansage Gottes, nicht mehr zu hören, hindert das Volk nicht daran, weiterhin zu beten. Und das mag eine der weiteren Besonderheiten des Hörens im Alten Testament sein – die Beständigkeit, mit der an der Bitte um Erhörung festgehalten wird. Dazu passt, dass aus der Perspektive der Exodus-Erzählung das Verhältnis zwischen Gott und Israel zuerst mit der Erhörung ihres Seufzens in der Knechtschaft beginnt (Exodus 2, 24). Die Bitte um das Hören Gottes ist zentrales Anliegen aller Gebete, und die Feststellung „Er hat gehört!“ eröffnet oder krönt den Dank der Geretteten (Psalm 22, 25). Wer von seinem Gott nicht mehr gehört wird, steht – mitten im Leben – im Machtbereich des Todes, weil sein Gebet keine Antwort findet (Psalm 88, 3-5). Wo hingegen Erhörung erlebt wird, da ist zuletzt wiederum die Stimme des Beters zu hören, wenn er im Lobpreis seinen Dank zu Gehör bringt (Psalm 26, 7).
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Ein hörendes Herz
„Hören“ ist im Alten Testament mehr als auditive Wahrnehmung. Für „Gehorsam“ und „Erhörung“ wird im Hebräischen die gleiche Vokabel verwendet

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