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Ein großer Europäer

Als Häftling 44.904 war Jorge Semprún (1923-2011) mehr als ein Jahr lang im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Sein erstes Buch „Der lange Weg“ ist ein Bericht über die Deportation im Viehwaggon von Frankreich nach Buchenwald. Als es herauskommt, ist Semprún schon fast 40 Jahre alt. Er habe so spät mit dem Schreiben begonnen, weil ihm die Erinnerung anfangs todbringend erschien, sagte er bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1994 in Frankfurt am Main: „Ich musste zwischen dem Schreiben und dem Leben wählen und entschied mich für das Leben.“

Vor 100 Jahren, am 10. Dezember 1923, kam Semprún in Madrid zur Welt, er starb 2011 in Paris. Das schriftstellerische Werk des großen Europäers umfasst fast 20 Romane und Essays sowie 13 Drehbücher. Zu seinem 100. Geburtstag erinnert Spanien mit einer Ausstellung des Kulturministeriums, Gedenkveranstaltungen in Theatern und einer Sonderbriefmarke an ihn. In Weimar ist ab dem 8. Dezember die Sonderausstellung „Jorge Semprún. Ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert“ zu sehen.

„Ich habe mehr Erinnerungen, als zählt ich tausend Jahre“, zitiert Semprún in „Unsre allzu kurzen Sommer“ Claude Baudelaire. Er wächst in einer linksliberalen, aber großbürgerlichen und katholischen Familie in Madrid auf. Der Vater ist spanischer Botschafter in den Niederlanden, als der spätere Diktator Francisco Franco gegen die spanische Republik putscht. Die Familie geht nach Paris ins Exil. Dort beginnt Semprún, Philosophie zu studieren, schließt sich der Résistance an.

Er wird von der Gestapo verhaftet und 1944 nach Buchenwald deportiert. Dort kommt er schnell in die von den Kommunisten übernommene interne Lagerverwaltung. „Die Kumpel, die mir geschickt werden, sind Proleten“, sagt in „Was für ein schöner Sonntag“ Willi Seifert, der Leiter des Büros für „Arbeitsstatistik“, weil er in ihm einen Intellektuellen, keinen Arbeiter sieht. Jahre später wird Seifert im Roman Generalmajor der Volkspolizei der DDR, während die spanischen Kommunisten im richtigen Leben Semprún 1964 aus der Partei werfen, weil er seine Zweifel an der Parteiführung immer offener ausspricht. Über diese Zeit reflektiert er später in „Federico Sánchez. Autobiographie“ – Federico Sánchez war Semprúns Deckname im kommunistischen Untergrund in Spanien.

Nach einem Lageraufstand und der Befreiung des Lagers am 11. April 1945 geht er zurück nach Paris, wird Mitglied im Zentralkomitee der spanischen Kommunistischen Partei im französischen Exil, organisiert im Untergrund in Spanien die kommunistische Opposition gegen Franco. „Ich bin verdächtig, weil ich meine eigene Klasse verraten habe“, schreibt er über die Schwierigkeiten, die ihm seine Herkunft bereitet: Die Genossen verzeihen ihm die bürgerliche Familie nicht, das spanische Großbürgertum hingegen versteht seine politische Haltung nicht.

Zu Hause habe ihm die Bibliothek stets offen gestanden, erinnert er sich, aber mehr als Vater oder Mutter erwähnt er eine deutsche Erzieherin, von der er Deutsch gelernt habe. In „Was für ein schöner Sonntag“ will ein SS-Hauptsturmführer wissen, warum der KZ-Häftling eine Straße verlassen habe, um eine verschneite Buche zu bewundern. Semprún erklärt, er habe gedacht, die Buche könnte jener Baum sein, unter dem sich einst Johann Wolfgang von Goethe und Johann Peter Eckermann bei ihren Ausflügen ausgeruht hätten.

Jahre später, nach seinem Leben als Federico Sánchez und nach dem Tod von Diktator Franco, macht ihn der Sozialist Felipe González 1988 zum spanischen Kulturminister: „Ich will, dass die Beamten der Guardia Civil vor jemandem wie Dir strammstehen müssen“, sagt ihm González. Nach nur drei Jahren verlässt Semprún das Amt wieder, aufgerieben im Flügelkampf innerhalb der Sozialisten. Er wolle wieder Schriftsteller sein, sagt er. Bis zu seinem Tod lebt er in Paris.

Doch auch wenn er sich in seinen Büchern wieder und wieder an seine eigene Geschichte erinnert, weigert er sich lange, nach Weimar und Buchenwald zurückkehren. Der deutsche Journalist Peter Merseburger will mit ihm 1992 einen Film drehen. Semprún lehnt erst ab, sagt dann aber doch zu. Die Bereitschaft Deutschlands, sich mit seiner totalitären Vergangenheit auseinanderzusetzen, mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus, spiegele sich für ihn in Weimar und in Buchenwald. Mit dieser Erfahrung, sagt Semprún später bei einer Buchvorstellung in Madrid, müsse Deutschland der Motor für ein geeintes und demokratisches Europa werden. Im Jahr 2003 spricht er am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Deutschen Bundestag

Als Jorge Semprún am 7. Juni 2011 im Alter von 87 Jahren stirbt, sagt Javier Solana, ehemaliger Außenminister Spaniens: „Ein Freund ist gestorben, ein außergewöhnlicher Mensch. Spanien ist ihm nicht gerecht geworden.“ Und die Zeitung „El País“ schreibt: „Jorge Semprún stirbt. Das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts.“