Artikel teilen:

Ein Ensemble zwischen Poesie und Drastik

Sie spielen ohne Tabus und ohne Grenzen. Das Integrative Theater Kiel setzt mit seinem neuen Stück auf starke Bilder und zarte Poesie.

Das Integrative Theater Kiel bei der Probe
Das Integrative Theater Kiel bei der ProbeAlmut Behl

Kiel. Eigentlich ist alles Routine. Jeden Mittwoch Punkt 18 Uhr beginnt im Seminarraum der Brücke SH die dreistündige ­Probe des Integrativen Theaters Kiel. Bis zu 16 Theater­begeisterte mit und ohne Behinderung formieren sich jeden Herbst nach einem Anzeigenaufruf neu, um mit der Theaterpädagogin Raija Ehlers acht Monate lang eine Szenen­collage zu erarbeiten, die Ende Juni ­Premiere feiert – Jahr für Jahr ein Abenteuer mit großen Herausforderungen. In diesem mussten wenige Wochen vor der Premiere zwei Darsteller und eine Assistentin neu besetzt werden. 
Die Anspannung ist groß. „You’re nothin’ but a hounddog, cryin’ all the time.“ Elvis schallt durch den Saal. Erstmal ist Aufwärmen durch Tanzen dran. Der junge Anil Ahmadi macht Dehnübungen, Sven Friedel, Spieler der ersten Stunde, dreht Runden im Rollstuhl. Die Frauen juchzen. Gleich soll ein Szenenausschnitt folgen.

Themen, über die man mal nachdenken muss

Dominik Schwieger sitzt auf einer Bank, das Ensemble im Rücken. „Es geht also um Gleichgewicht“, um die Balance zwischen Welt und Universum“ sinniert der blonde Mann mit rauer Stimme. „Das sind Themen, über die muss man mal nachdenken“ und kommt in einem schwärmerischen Monolog über den Kosmos auf Frauen zu sprechen. 
Schon kommen zwei (Bärbel Storch und Maryam Sattarzadeh) kichernd gelaufen. Kurzes Geplänkel auf der Bank, dann stehen die Frauen auf und schleudern ihre Haare wie Windräder durch die Luft. Ein entfesseltes Kräftemessen der Schönheit, jäh gestoppt durch zwei Eifersüchtige (Gabriele Lüneberg und Antje Haase), die den Tanzenden hinterrücks Vlieshauben überstülpen, als wollten sie deren Vergnügen ersticken. Hier schreitet Raija Ehlers ein und führt die Handgriffe nochmal vor: Noch zackiger zwischen Sack über den Kopf ziehen und dem militant-adretten Einfassen der Haare zum klassischen Kopftuch. Es sollen Gesten mit bewusstem Gefälle werden. 
Bilder zwischen Poesie und Drastik sind typisch für das Integrative Theater Kiel, das die gebürtige Finnin Ehlers leitet. Ihre inklusive Theaterarbeit hat sie am Hamburger Thalia-Theater begonnen. 2003 setzte sie diese in Kiel fort – gefördert von der Stadt und unter der Trägerschaft des Vereins "Neue Arbeit – Neue Kultur Kiel". 
Für ihre „besonderen Verdienste um inklusive und integrative Theaterarbeit“ wurde Raija Ehlers im April im Hamburger Thalia-Theater mit dem Golden-Hans-Preis für Theater mit behinderten Menschen ausgezeichnet. 

Preis für die Theater-Truppe

Dank der kontinuierlichen Kooperation mit dem Jungen Theater im Werftpark Kiel können die Aufführungen auf professioneller Bühne stattfinden. Auch auf Gastspielen, darunter in Essen und Vaasa, Kiels finnischer Partnerstadt, kam die spürbar vom Tanztheater Pina Bauschs beeinflusste Regie gut an. 
2014 erhielt das Integrative Theater Kiel den Integrationspreis des schleswig-holsteinischen Landesverbandes des Sozialverbandes Deutschland. „Es ist mir in dieser Arbeit wichtig, den theatralen Entwicklungsprozess sehr lange ergebnisoffen zu halten, um den Spielern in den Proben möglichst viele unterschiedliche Erforschungs- und Erprobungsfelder zu bieten“ erzählt Ehlers. 
Was sich aus der heterogenen Gruppe, zu der seit vielen Jahren auch Geflüchtete gehören, in den disziplinierten Proben mit viel Improvisation an gemeinsamen Themen herauskristallisiert, verbindet die Regisseurin zu einem von persönlicher Privatheit der Darstellenden gelösten, aber authentisch durchwirkten Stoff. Textstark und lyrisch, minimal im Einsatz multifunktionaler Requisiten, reich an Metaphern und immer mit Musik, setzt die 67-Jährige Regisseurin auch schwierige Themen ohne Tabus um. 
„In diesem Jahr war Angst ein großes Thema“ sagt sie. „Haus.Land.Gelände“ ist das neue Stück überschrieben und lässt vermuten, dass das stets neu durchmischte Ensemble sensible Sujets wie Sicherheit auch wieder wieder mit dem berührenden Spektrum zwischen Psyche und Politik behandelt, mit dem es seit 15 Jahren begeistert. 
Info
„Haus.Land.­Gelände“ wird  im Theater im Werftpark Kiel, Ostring 187 A am Dienstag, 26. Juni, und am Freitag, 29. Juni, aufgeführt. Beginn ist jeweils um 18 Uhr. Karten gibt es im Internet auf www.theater-kiel. de