Auch in diesem Jahr werden sich wieder unzählige Menschen auf den Jakobsweg machen. So unterschiedlich sie auch sind, so einen sie doch ihre Beweggründe. Der Soziologe Christian Kurrat forscht an der FernUniversität in Hagen über die Soziologie des Pilgerns und hat seine Dissertation über die Motive geschrieben. Mit Angelika Prauß spricht er über verschiedene Pilgertypen, die Faszination des Pilgerns und überraschende Erkenntnisse.
• Herr Kurrat, was treibt Menschen an, auf dem Jakobsweg zu pilgern?
Eine zentrale Erkenntnis ist, dass Pilgern heute ein biographisches Programm ist. Die Entscheidung zum Pilgern hat ihren Ausgangspunkt in einer typischen biographischen Situation. Ich habe dabei fünf Haupttypen und zwei Untertypen zeitgenössischer Pilger entdeckt.
• Was kennzeichnet die unterschiedlichen Typen?
Da sind zunächst die Menschen, die ihr Leben bilanzieren. Sie befinden sich in ihrer letzten Lebensphase, haben den nahenden Tod vor Augen und nutzen das Pilgern für eine geistige Rückschau auf ihr Leben: Sie ziehen für sich selbst und im Angesicht Gottes Bilanz. Andere starten aus einer biographischen Krise, durch ein ungeplantes Ereignis der nahen Vergangenheit, etwa ein naher Todesfall oder eine Krankheit. Diese Menschen pilgern, um dieses Ereignis zu verarbeiten. Dann gibt es den Auszeit-Pilger: Menschen, die in ihrem beruflichen oder privaten Alltag extreme Anforderungen erleben oder in einer Sinnkrise sind. Sie nutzen die Zeit, um Prioritäten zu überdenken und Abstand zu bekommen.
Den vierten Typ kennzeichnet ein biographischer Übergang. Es ist auffällig, dass man auf dem Jakobsweg sehr viele Menschen trifft, die sich an einer Schwelle in ihrem Leben befinden – nach dem Studium, vor dem Rentnerdasein. Sie nutzen das Pilgern als Ritual, das sie von einem in den anderen Lebensabschnitt hinüberbringen soll. Der fünfte Pilgertyp ist der Neustarter, bei dem ein selbst gewählter Bruch im Lebenslauf vorliegt – etwa Menschen, die sich von ihrem langjährigen Lebenspartner getrennt oder ihren Beruf nach einer Phase des Unglücklichseins aufgegeben haben. Das Pilgern ist für sie die Initiierung für den Neustart, und sie suchen dabei auch Anregungen für das neue Leben.
• Dann machen Sie auch noch zwei Sondertypen von Pilgern aus…
Genau, es gibt auch Menschen, die stellvertretend für jemand anderen pilgern, der selbst nicht mehr in der Lage ist, diesen Weg zu gehen. Und es gibt Pilger aus Berufung – Menschen, die für andere Pilger da sein wollen, sie geistlich oder anders unterstützen. Darunter sind auch Reiki-Heiler oder Tempelritter.
• Was überwiegt – spirituelle Gründe, oder einfach der Wunsch, eine Auszeit zu nehmen und sich dabei zu bewegen?
Auf der einen Seite gibt es immer noch diejenigen, die aus Tradition heraus pilgern. Aber seit den 1980er Jahren hat sich eine zweite, große Gruppe entwickelt, die sich aus individualistischen religiösen Motiven auf den Weg macht: Diese Menschen haben sich aus verschiedenen sinnstiftenden Deutungsangeboten ihr eigenes Weltbild, das zu ihrem eigenen Leben am besten passt, zusammengebastelt. Das Problem dieser privatisierten Spiritualität ist, dass sie keine Sozialform hat, um sich auszudrücken. Auf dem Jakobsweg begegnen sich sehr viele Menschen, die sich eine private Religion zusammengebastelt haben. Sie tauschen sich darüber aus, erweitern so ihre Glaubensvorstellung und festigen sie durch das Kollektiv der Jakobspilger. So entsteht dort eine neue Sozialform von Religion.
• Warum wählen die Menschen gerade den Jakobsweg aus?
Leider gibt es bisher keine vergleichbare Studie über andere Pilgerwege. Ein Auslöser war sicherlich Hape Kerkeling. Die Zahlen der deutschen Pilger sind nach der Veröffentlichung des Buches um mehr als 70 Prozent angestiegen. Das Buch – das am meisten verkaufte Sachbuch Europas – ist 2006 erschienen, ein Jahr später lässt sich der Kerkeling-Effekt nachweisen, der bis heute anhält. Kerkeling hat den Menschen eine Option für biographische Krisen aufgezeigt. Und auch die gute Infrastruktur vor Ort lässt sich viele Pilger für den Jakobsweg entscheiden. Man muss dort nicht viel planen, es gibt über 500 Herbergen.
• Und es wird auch das Bewusstsein sein, einem Weg zu folgen, den über die Jahrhunderte vielleicht schon Millionen Menschen gepilgert sind…
Genau, auch das klingt in den Interviews immer wieder an. In der Soziologie bezeichnen wir das als diachrone Gemeinschaft: Menschen ordnen sich in ein imaginiertes Kollektiv aller Jakobspilger ein. Besonders deutlich wird das am Ritual des Steinablegens am Cruz de Ferro, dem höchsten Punkt des Weges, wo jeder Pilger einen aus der Heimat mitgebrachten Stein ablegt. Dabei wächst auch das Bewusstsein: Hier liegen Steine aus vielen Jahrhunderten und aus vielen Erdteilen. Der Pilger begreift sich als Teil dieser zeitüberdauernden Gemeinschaft.
• Unabhängig vom Jakobsweg verzeichnen auch kleinere Pilgerwege Zulauf. Was reizt Menschen am Pilgern?
Die Außeralltäglichkeit ist für den modernen Menschen sehr reizvoll. Wir leben in einer hochtechnisierten, digitalen, schnelllebigen, motorisierten Zeit, in der es kaum Möglichkeiten des Rückzugs, der Muße und des Nachdenkens gibt. Es ist für normale Menschen sehr ungewöhnlich, sich für Wochen mit einem Rucksack, der nur das Nötigste enthält, auf einen Weg zu machen, wo man Wind und Wetter ausgesetzt ist, in kargen Unterkünften nächtigt und am Morgen noch nicht weiß, wo man am Abend schläft. Die Außeralltäglichkeit des Pilgerns hat einer meiner Interviewpartner als das letzte große Abenteuer in Europa bezeichnet.
• Verändert das Pilgern die Menschen?
Ich habe keine Interviews nach der Rückkehr geführt; das wäre ein Aspekt für Anschlussforschungen. Aber es ist faszinierend zu beobachten, wie Menschen durch die Reduktion auf das Wesentliche – nur mit einem Rucksack und aus eigener Kraft unterwegs – beginnen, kleine Dinge wertzuschätzen. Das führt zu einer Öffnung, sie genießen etwa ihr karges Essen. Die Menschen kommen mit einer unglaublichen Gelassenheit am Ziel an, Alltagsprobleme relativieren sich, und sie kehren mit einer anderen Einstellung nach Hause zurück: Es ist erstaunlich, dass Partnerschaften nach einer Pilgerfahrt zerbrechen oder sich der Freundeskreis komplett verändert. Die amerikanische Anthropologin Nancy Frey hat in den 1990er Jahren herausgefunden, dass zurückgekehrte Pilger in ihrem Alltag viel mehr die Stille suchen, weniger kommunikativ sind als vorher, Zeiten des Rückzugs bewusst suchen und auch im Alltag gerne mehr wandern gehen. Diese Lust am Wandern und am Dasein in der Natur wird durch das Pilgern gestärkt.
• Gab es etwas, das Sie bei Ihrer Studie überrascht hat?
Wirklich überrascht hat mich, dass ich Menschen getroffen habe, die ihren Lebenspartner auf dem Jakobsweg kennengelernt haben. Und manchmal sind auf dem gemeinsamen Pilgerweg auch Kinder entstanden.