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Doku “Octopus!” feiert eines der erstaunlichsten Geschöpfe der Welt

In seiner zweiteiligen Doku “Octopus!” erklärt Amazon Prime ein beispielloses Lebewesen. Dank Phoebe Waller-Bridges Stimme ist das gleichzeitig äußerst amüsant und sehr erhellend.

Erinnert sich noch jemand an Paul, den Kraken? Es war im Sommer 2010, als das achtarmige Weichtier sieben Resultate der Fußball-Nationalmannschaft nacheinander vorausgesagt – oder besser: vorausgeklettert – hatte. Spiel für Spiel stieg der Oktopus in schwarz-rot-goldene Gläser und sorgte damit – so weit der Fußballvolksglaube – für den Einzug ins Halbfinale. Weil er vor dem Finale dummerweise auf Spanien tippte und abermals richtig lag, geriet Paul jedoch schmählich in Vergessenheit. Bis jetzt.

Denn 15 Jahre später erinnert uns ausgerechnet die britische Romantic-Comedy-Göttin Phoebe Waller-Bridge mit ihrer betörenden Stimme – bekannt aus der RomCom-Legende “Fleabag” – an diese Prophezeiungen. Mehr noch: Weil sie Teil einer Reihe erstaunlicher Leistungen des Tintenfischs aus der Familie Echter Kraken sind, darf Paul bei Prime eine Hommage eröffnen, die mehr Liebeserklärung als Tierdokumentation ist und schon deshalb ein riesiges fettes Satzzeichen hinterm Titel verdient.

Octopus! Eines der erstaunlichsten Geschöpfe der Welt und deshalb alle Lobeshymnen wert. Zumindest, wenn sie mit solcher Originalität gesungen werden wie von Niharika Desai. Denn statt nur ein paar findige Tierfilmer auf die Lauer nach tollem Bildmaterial zu legen, hat die amerikanische Filmemacherin eine Collage gebastelt – so vielschichtig wie der hochintelligente Tintenfisch aus der Familie echter Kraken selbst.

In der kambrischen Explosion vor rund 550 Millionen Jahren, also gewissermaßen bei der Geburt komplexer Lebensformen auf Erden, entdeckt die Filmemacherin enge Bindungen zwischen Tier und Mensch. Um sie zu illustrieren, hat sie ein Exemplar zum Beispiel gehäkelt, Doris genannt und auf die Reise durch ein kurzes, aber ereignisreiches Leben geschickt. Anderthalb Stunden lang folgen wir ihr aus einem der knapp 100.000 Eier durch den Westpazifik zur vollen Reife.

Da der Zweiteiler zwar familiengerecht, aber nicht infantil ist, holt sich Amazon Prime die Expertisen echter Lebewesen ein. Sieben Fachleute unterschiedlicher Art helfen Desai und Waller-Bridge, das Dasein der Gattung zu erklären. Und das gelingt – auch wegen der untermalenden, nicht überwältigenden Musik von Siddharta Khosla – mit Bravour. Die kalifornische Wissenschaftlerin Jenny Hoffmeister zum Beispiel erklärt, dass Doris drei Herzen, neun Gehirne und 300 Millionen Neuronen verteilt auf acht Arme hat.

Der New Yorker Comedian Tracy Morgan zeigt sodann mehrere Oktopusse bei sich zuhause im weltgrößten Privataquarium. Und Desais Unterwasserkameramann Luis Lamar warnt, dass uns die größten Exemplare mit der Kraft tellergroßer Saugnäpfe “zerfetzen könnten, wenn sie in der Stimmung sind”. Sind sie aber selten, sagt der Meeresbiologe Piero aus Neapel – und schwärmt von “Einzelgängern, die ein Leben lang allein bleiben”. Außer im Golf von Mexiko. Dort haben Fischer angeblich eine Kolonie großer gestreifter Oktopusse gesehen. Also hin da!

Was den Film mehr noch als seine spektakulären Naturbilder kennzeichnet, ist nämlich die bedingungslose Leidenschaft aller Protagonisten. Wenn Lamar über sein Beobachtungsobjekt “freaky, total freaky” sagt, meint er das demnach unbedingt anerkennend. Und zwar völlig zu Recht! Oktopusse ändern bei Gefahr nicht nur in Millisekunden Farbe und Struktur. Sie können sich riesengroß machen und winzig klein, scheinbar in Fressfeinde oder Beutetiere verwandeln, zweibeinig gehen, Werkzeuge nutzen, Tinte spritzen, ihr Spiegelbild erkennen, ein Bewusstsein entwickeln und sich auch deshalb mit Tentakeln giftiger Quallen bewaffnen. Oktopusse mit Ausrufezeichen sind also ziemlich unangreifbar.

Es sei denn, bei der Fortpflanzung. Denn die kann – zumindest für Männchen – tödlich enden. Sex, sagt Phoebe aus dem Off, sei folglich das Einzige, wovor Oktopusse Angst haben sollten. Mal abgesehen vom Todfeind aller Lebewesen natürlich. Homo sapiens. Der Mensch. Wir alle. Den Beweis dafür liefert ausgerechnet ein Fischer namens Giorgos, der seinen Fang exakt 60-mal auf den Boden haut, damit er schmackhaft wird. Klingt brutal. Ist Tradition. Und richtet weitaus weniger Schaden an als die Schleppnetze, mit denen riesige Flotten den Meeresgrund vor Griechenlands Küsten so leer fegen, dass Giorgios mit seiner nachhaltigen Fangtechnik kaum noch etwas an der Angel hat.

In “Octopus!” geht es also nicht nur um spektakuläre Aufnahmen drolliger Kreaturen. Es geht um Kapitalismus und Klimawandel, Biodiversität und Ökosysteme, was wiederum philosophische Fragen aufwirft. Etwa danach, ob ein Leben schützenswerter sein kann als das andere.