“Die Wütenden – Les Miserables” knüpft nicht nur vom Titel her an den gleichnamigen Roman von Victor Hugo an. Inhaltlich widmet sich der Film drängenden Fragen der Gegenwart – und das mit einer meisterhaften Inszenierung.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
Polizist Stephane (Damien Bonnard) stößt neu zu dem Duo Chris (Alexis Manenti) und Gwda (Djebril Zonga) hinzu, das in einem Pariser Vorort Streife fährt, und wird schon am ersten Einsatztag mit den dortigen Machtverhältnissen konfrontiert, an denen seine neuen Kollegen durch Gewalt, Schikanen und Korruption regen Anteil haben. Als ein Löwenjunges aus einem Zirkus von einem Jugendlichen gestohlen wird, droht das fragile Interessengleichgewicht im Viertel zu kippen, umso mehr als die Polizisten bei der eskalierenden Festsetzung des Diebs gefilmt werden.
Der meisterlich inszenierte Film von Ladj Ly von 2019 über die explosive Gemengelage an Fronten und Fraktionen in den französischen Banlieues wurde unter anderem in Cannes und bei den “Cesars” ausgezeichnet, für den “Oscar” und den “Europäischen Filmpreis” nominiert. Ohne einseitige Schuldzuschreibungen greift das fein gezeichnete Drama brandaktuelle gesellschaftliche Strömungen auf und sensibilisiert eindrücklich für die unkalkulierbaren Gefahren, die aus jeglicher Form der Ausgrenzung erwachsen.
Schwarz prangt das Wort “Police” auf der roten Armbinde. Wann immer Stephane Ruiz den Wagen seiner Polizei-Einheit verlässt, streift er sich das Band über den muskulösen Oberarm, um sich vorschriftsmäßig als Gesetzeshüter zu erkennen zu geben. An seinem ersten Tag will Stephane alles richtig machen; für seinen Eifer erntet er aber erst einmal belustigte Blicke seiner Kollegen Chris und Gwada – und schließlich den gereizten Tadel: “Nimm das verdammte Armband ab! Es ist offensichtlich, dass wir Polizisten sind!”
Rund zehn Jahre sind die beiden schon in den Straßen von Montfermeil unterwegs, kennen die Einwohner und haben sich ihre Meinung über jeden von ihnen gebildet – und diese wissen wiederum genau, was blüht, wenn das graue Auto in ihrer Nähe hält: herablassende Bemerkungen, willkürliche Kontrollen und andere Schikanen.
Zwanzig Kilometer vor Paris ist Montfermeil mit seinen Plattenbauten, dem Bevölkerungsgemisch und der Aura von Armut und Perspektivlosigkeit eine Banlieue wie viele, und doch auch geschichtsträchtig, seit Victor Hugo den Ort 1862 in seinem Romanepos “Les Miserables” zu literarischen Ehren kommen ließ. Mit seinem Spielfilmdebüt lehnt sich der Franzose Ladj Ly nicht nur im identischen Titel an Hugos Klassiker an – auch an manche Figuren des Romans darf sich der Zuschauer rasch erinnert fühlen.
Filme über das Milieu der Banlieues sind zahlreich und in unterschiedlichsten Spielarten entstanden, seit sich die ungepflegten Hochhaus-Labyrinthe ab den 1970er-Jahren als Nährboden für gewaltsame Aufstände herausstellten. “Les Miserables – Die Wütenden” ist nicht der erste Film, der sich dem Banlieue-Schauplatz mit einem quasi-dokumentarischen Einstieg annähert. Doch eine solche unmittelbare Nähe hat keiner seiner Vorgänger erschaffen können: Die Kamera von Julien Poupard ist grundsätzlich mit im Wagen, wenn die Polizisten umherfahren, nimmt deren Blick auf die Außenwelt ein sowie ihre Wahrnehmung, gerade eben so vor einer omnipräsenten Bedrohung geschützt zu sein.
Ly nutzt die Figur von Stephane, um seine Orientierung suchende Perspektive zu der des Zuschauers zu machen. Der Erstkontakt des Polizisten mit dem fremden Milieu umfasst den überwiegenden Teil des Films. Es ist Sommer 2018, gerade hat Frankreich die Fußball-WM gewonnen, und bei der Einstimmung am Morgen sagt die Chefin einen ruhigen Arbeitstag voraus: Streifendienst in einer von Tricolore-Seligkeit erschöpften Stadt. Doch filmisch deutet die Kombination aus Hitze, Adrenalin-Nachwirkungen des sportlichen Triumphes und schwelendem Konfliktpotenzial auf eine andere Entwicklung hin: den Ausbruch von Gewalt.
Der Filmemacher bewegt sich souverän an den Frontlinien entlang, die sich im Lauf des Films verschieben, bis zu einer überraschenden Neuordnung. Er vermeidet es eindrucksvoll, den Genre-Klischees des Banlieue- oder Ghettodramas zu verfallen. Selbst in Montfermeil aufgewachsen, filmte der 1980 in Mali geborene Ly das dortige Leben bereits in den 1990er-Jahren. Dokumentarisches Material über die Unruhen von 2005 veröffentlichte er seinerzeit ebenso online wie Langzeitdokumentationen über den Alltag in dem Vorort. Dem Spielfilm “Die Wütenden” ging 2017 ein gleichnamiger Kurzfilm mit identischen Plotelementen und denselben Hauptdarstellern voraus.
Der Film spricht eine der drängenden Debatten der heutigen Zeit an: Fragen nach dem Zusammenhalt und dem Wunsch nach Integration. Die Sehnsucht der jungen Figuren, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist bereits in der Anfangssequenz wahrzunehmen, in der sie in der Masse auf den Champs-Elysees aufgehen und in die Nationalhymne einstimmen – womit auch schon subtil die Grenzen des Gemeinschaftsgefühls angedeutet werden, angesichts der kritischen Haltung zur “Marseillaise” im Kino der vergangenen Jahre.