Es sind genau 134 Stufen bis zur Wohnung von Blanca Knodel. Einen Aufzug gibt es nicht. Denn Blanca Knodel wohnt im Blauen Turm, dem Wahrzeichen von Bad Wimpfen im Landkreis Heilbronn. Kein Geringerer als Kaiser Barbarossa ließ den imposanten Bau um 1170 als westlichen Bergfried der Königspfalz errichten. Seitdem hat der Blaue Turm, der seinen Namen wohl einer früheren Schieferdeckung verdankt, viel überstanden – Kriege, Krisen und Blitzeinschläge.
In solchen Fällen war es stets Aufgabe des in luftiger Höhe lebenden Türmers, die Wimpfener zu warnen. Blanca Knodel pflegt diese inzwischen 650 Jahre alte Tradition – nach Angaben der Stadt die längste ununterbrochene Türmertradition Deutschlands. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert lebte auf dem Turm ständig ein Türmer. „Ich bin Nummer 32 in dieser Reihe“, sagt die 72-Jährige, um dann hinzuzufügen: „Aber ich war die erste Frau, die das Amt des Türmers übernommen hat.“ Inzwischen gibt es weitere Türmerinnen, etwa in Münster oder in Lübben. Der Unterschied: Anders als Blanca Knodel wohnen sie dort nicht im Turm.
Türmer sind eine aussterbende Spezies
Jahrhundertelang gehörte es zu ihren Aufgaben, nach Angreifern und Bränden Ausschau zu halten. Das ist nicht mehr nötig. In Bad Wimpfen hatte der jeweilige Amtsinhaber seit dem 19. Jahrhundert zudem die Aufgabe, den sonntäglichen Choral vom Turm herab zu blasen. Heute spielen Mitglieder der Stadtkapelle von Ostern bis Erntedank jeden Sonntag um 12 Uhr Choräle vom Turm.
Hauptsächlich sind die noch aktiven Türmer, die übrigens in der Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft organisiert sind, heute für die Touristen da, die wegen des meist atemberaubenden Ausblicks kommen. Blanca Knodel zählt sie nicht. Aber es sind viele. Auch heute. Der Bewegungsmelder, der Turmbesucher ankündigt, piepst nahezu im Minutentakt. „Guten Tag, hier ist die Mautstelle“, sagt Blanca Knodel dann freundlich. Wer drei Euro bezahlt, darf die restlichen 33 Stufen bis zur Zinne erklimmen und den Blick aufs Neckartal genießen.
Nicht wenige versuchen beim Bezahlen an Blanca Knodels Tür, einen Blick in die Türmerwohnung zu erhaschen. Mit gerade einmal 55 Quadratmetern ist sie nicht groß. Aber die talentierte Türmerin hat sie mit Trennwänden so geschickt eingerichtet, dass nicht nur für das vier Zentner schwere und 200 Jahre alte Blüthner-Klavier und den Whirlpool im Bad Platz ist, sondern dass auch Raum war für drei Kinder. Die waren 9, 11 und 13, als Blanca Knodel 1996 Türmerin wurde. Sie hat sie allein großgezogen. „Mein Ehemann war auch Türmer – allerdings ohne Turm. Er ist abgehauen, als ich mit dem dritten Kind schwanger war“, wortwitzelt sie.
Einsamkeit verspürt die quirlige Türmerin nicht
Blanca Knodel erzählt gern und ausgesprochen unterhaltsam. Sie kann mit Menschen. Vielleicht liege das daran, dass sie in der Gastronomie aufgewachsen ist, vermutet sie. Ihren Eltern gehörte das traditionsreiche „Kräuterweible“. Später verschlug es sie nach Spanien und nach Kanada. „Aber mir war immer klar, dass ich irgendwann nach Wimpfen zurückkommen werde“, sagt die quirlige Frau, deren Familienstammbaum in den evangelischen Kirchenbüchern von Bad Wimpfen bis 1645 zurückreicht. Das Amt der Türmerin sei ihr Traumberuf.
Einsam fühle sie sich nie, sagt Blanca Knodel. Und Angst habe sie auch keine: „Wovor denn? Vor dem Geist von Kaiser Barbarossa? Eine Begegnung wäre sicher amüsant.“ Einmal in der Woche erledigt sie den Großeinkauf. Die schweren Tüten stellt sie meist unten an der Treppe ab – mit einem Schild „Bitte mit hochbringen“. Bislang habe das immer funktioniert, erzählt sie. Zur Belohnung gebe es für die Träger oben manchmal auch ein Glas ihres Türmerinnen-Sekts.
Dann meldet sich wieder der Bewegungsmelder und kündigt die nächsten Gäste an. „Ich muss“, sagt Blanca Knodel und begibt sich zu ihrer „Mautstelle“. Nein, einsam ist es dort oben nicht.