Selten stand die wichtigste deutsche Kunstschau so im Fokus, wie in diesem Jahr. Nach immer wieder auftauchenden Antisemitismusvorwürfen stellt sich die Frage, ob es Grenzen der Kunstfreiheit gibt? Die documenta 15 – ein Rückblick
Von Hannes Langbein
Vor knapp einem Monat ging in Kassel die documenta 15 zu Ende. Selten wurde über eine documenta so sehr gestritten wie in diesem Jahr: Die Ausstellung, so die Vorwürfe, habe antisemitischen Weltanschauungen ein Forum geboten. Die Kurator*innen hätten sich ihrer kuratorischen Verantwortung entzogen und sich einer klärenden Debatte verweigert. Zeitweise stand in Frage, ob die documenta nicht abgebrochen werden müsse. Die Geschäftsführerin der Schau trat zurück. Ein Expertengremium empfahl nach der Prüfung aller Kunstwerke auf antisemitische Motive die Entfernung einiger Kunstwerke. Das Kurator*innenkollektiv kam der Empfehlung nicht nach. Die sogenannte Weltkunstausstellung endete in einem medialen Scherbenhaufen. Alle Fragen offen.
Hoffnungen
Dabei waren die Hoffnungen groß: Als die künstlerische Leitung der documenta 15 im Februar 2019 angekündigt wurde, ging ein Raunen durch den Kunstblätterwald: Das indonesische Kurator*innenkollektiv Ruangrupa sollte die documenta kuratieren. Werte wie Großzügigkeit und Solidarität sollten die Kunstschau leiten. „Lumbung“ – Indonesisch für „gemeinschaftliches Teilen“ – und „Nonkrong“ – „gemeinsames Abhängen“ – versprachen nicht nur eine Erweiterung des Kunst-Wortschatzes, sondern auch ein neues Selbstverständnis der Kunst: weg von Ästhetik, Autonomie und radikaler Individualität der einzelnen Künstlerpersönlichkeit hin zu einem gemeinschaftlichen Arbeiten von Künstler*innenkollektiven an den gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit mit Künstler*innen, die selbst von diesen Problemen betroffen sind.
Auch für das Verhältnis von Kunst und Kirche schien sich ein neues Kapitel anzubahnen: Könnten sich im Horizont des Gemeinschaftsgedankens nicht ganz neue Begegnungsfelder erschließen, wenn nicht mehr Einzelkünstler*innen mit einer ästhetischen Vision einer Gemeinde gegenüberstehen, sondern zwei „Kollektive“ mit einem Blick für das Gemeinschaftliche und einem Sinn für die Unterdrückten der Erde auf beiden Seiten?
Vorwürfe
Doch noch bevor die Schau begann, gab es erste Risse: Nicht nur, weil sich unter den Bedingungen einer Pandemie das Prinzip von „Nonkrong“ (Slang-Begriff aus Jakarta, der „gemeinsam abhängen“ bedeutet) und gemeinschaftlichem Kuratieren weniger konsequent durchführen ließ als erhofft, sondern vor allem, weil sich das Kurator*innenkollektiv mit dem Vorwurf konfrontiert sah, es habe dem Israel-Boykottbündnis BDS nahestehende palästinensische Künstlerkollektive eingeladen, aber keine israelischen Künstler*innen. Die Kurator*innen verteidigten sich: Israelische Künstler*innen seien durchaus beteiligt, wollten sich aber nicht auf ihre Nationalität festlegen lassen und seien daher nicht als solche genannt worden. Erstmals standen Antisemitismus-Vorwürfe im Raum, deren öffentliche Diskussion zunächst angesagt, dann wieder abgesagt wurde.
Nach Eröffnung der Schau kam es noch schlimmer: Ein überdimensioniertes Polit-Wimmelbild der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi auf dem Kasseler Friedrichsplatz, dem Epizentrum der documenta, das die Unterdrückung der indonesischen Bevölkerung mit klar antisemitischen Ausdrucksformen anprangerte, bestätigte die Vorwürfe des Antisemitismus prominent. Nachdem das Bild zunächst verhüllt und schließlich abgehängt wurde, wurden weitere Werke mit antisemitischen Motiven – etwa palästinensische Propaganda-Filme aus den 1970er Jahren – entdeckt. Bei einer Anhörung im Bundestag wurde mit Blick auf die documenta bereits von einer „Antisemita“ gesprochen und mehr staatliche Kontrolle gegenüber dem künstlerischen Programm der mit staatlichen Mitteln geförderten Ausstellung gefordert.
Debatten
Damit war aus der Antisemitismus-Debatte auch eine über die Kunstfreiheit geworden: Was dürfen Künstler*innen zeigen? Wie stark dürfen Kurator*innen oder gar Politiker*innen Einfluss auf künstlerische Ausdrucksformen nehmen? Wer trägt die Verantwortung? Bisher galt das Credo: Die Kunst ist frei!
Was aber, wenn sie grundlegenden gesellschaftlichen Übereinkünften zuwiderläuft? Wenn sie die Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt? Wenn sie Gewalt verherrlicht? Gibt es Grenzen der Kunstfreiheit und, wenn ja, wo liegen sie?
Während die einen rote Linien überschritten sahen, sahen andere das Ende der Kunstfreiheit heraufziehen: Wer sich die Perspektive des „globalen Südens“ in Deutschland wünsche, der müsse auch mit seinen Perspektiven leben, auch wenn sie westlichen Perspektiven zuwider laufen sollten. Kunst dürfe sich nicht an „Political Correctness“ orientieren. Andere wiesen darauf hin, dass sich politisch motivierte Kunst auch an politischen Maßstäben messen lassen müsse.
Ruangrupa selbst sah in den Vorwürfen eine neue Form des Rassismus: Gäste aus Übersee müssten zuerst in deutsche gesellschaftliche Übereinkünfte einwilligen, bevor sie in Deutschland tätig werden könnten. Wieder andere sahen darin eine naive bis selbstgefällige Verweigerungshaltung der Kurator*innen, die so gar nicht zur Debattenkultur des kollektiven Ansatzes passen wollte – und vielmehr den kollektiven Ansatz nutze, um Verantwortung zu delegieren und Verantwortungsstrukturen zu verwischen.
Kontraste
In der Tat fragt man sich im Nachhinein, warum das Kurator*innenkollektiv die Debatte über die Frage des Antisemitismus nicht stärker im Rahmen der documenta verhandelte: Ein Ausstellungskonzept, das auf radikales Miteinander, Diskurs und gemeinschaftliche Verantwortung setzt, hätte die medial geführten Debatten zu einem Bestandteil ihres Projektes und die documenta zu einem Forum dieser wichtigen Fragen machen können.
So aber stellte sich ein eigentümlicher Kontrast ein: Denn während die öffentlich geführte Debatte im Laufe der Zeit an Schärfe zunahm und die öffentliche Perspektive auf die Kunstschau prägte, machten Besucher*innen vor Ort eine ganz andere Erfahrung: Sie erlebten in weiten Teilen eine farbenfrohe, spielerisch leichte und zugleich nachdenklich-machende, gesellschaftsbewegte Kunstlandschaft. Sie bot im Stil eines Demo-Camps künstlerischen Positionen von und über marginalisierte Gruppen der globalen Gesellschaft ein Forum, die im klassischen westlichen Verständnis nicht immer als Kunst gelten würden. Kunst-Erleben jenseits der eingespielten Kategorien von Kunst und Kunsthandwerk, Kunst und Kunsttherapie mit einem für ein Kunst-Großevent seltenen Blick für alle Generationen. Ruhe und Kontemplation mit Spielinseln für Kinder und Ruheräumen für Erwachsene. Hätte dies nicht auch der Boden für die großen Fragen der Kunstfreiheit und des Antisemitismus sein können?
Brücken
Im Fridericianum auf dem Kasseler Friedrichsplatz, dem „Eingangsgebäude“ der documenta, hätte der Brückenschlag möglicherweise gelingen können. Denn dort fanden sich zwei konträre Perspektiven auf engstem Raum: Ein Kinderspielplatz, der ungewöhnlich genug – inklusive Maltischen und Wickeltischen – gleich zu Beginn der Ausstellung gleichsam zum hermeneutischen Schlüssel der Kunstwahrnehmung aus der schöpferischen Perspektive der Kinder wurde. Nur zwei Etagen höher: Militaristische Propaganda-Filme, die – auf fragwürdig unkommentierte Weise – unter anderem Waffen tragende Kinder und Jugendliche zu martialischer Musik wie zukünftige Märtyrer präsentierten. Schneidender und brutaler hätten die Kontraste nicht inszeniert sein können.
Nach dem zweckfreien, kindlichen Spiel im Entrée der Ausstellung, das für die farbenfrohe Seite der Ausstellung stehen kann, das instrumentalisierte Leben eines kindlichen Märtyrers, das auf die Traumata verletzten Lebens und die Debatten um deren Darstellung hindeutet. In dieser bis zur Schmerzgrenze provozierenden Spannkraft der Perspektiven hätte sich eine Debatte am Eingangstor zur documenta entzünden können. Mehr als bedauerlich, dass es nicht dazu gekommen ist.
Pfarrer Hannes Langbein ist Kunstbeauftragter der EKBO und Direktor der Stiftung St. Matthäus.
Bilderstreit! Was darf man zeigen? – Antisemitismus
20. Oktober, 19 Uhr, St. Matthäus-Kirche Berlin-Tiergarten