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Die Narben bleiben

Evelyn hat in ihrem Leben viel Gewalt erfahren. Erst vom Vater, dann vom Freund. Ihr Partner hat sie fast umgebracht. Hilfe und Unterstützung erfährt die junge Frau von einer Mitarbeiterin des Opferhilfevereins Weisser Ring. Seit 40 Jahren gibt es den Verein

Die Überschrift der Zeitungsmeldung lautet „Fenstersturz“. Darunter steht: „Eine 21-Jährige Frau, die bei einem Sturz aus dem vierten Stock schwer verletzt wurde, schwebt weiter in Lebensgefahr. Nach einer zehnstündigen Notoperation ist ihr Zustand stabil, aber kritisch.“
Drei Monate später sitzt die junge Frau im Rollstuhl am Esstisch der Wohnung ihrer Mutter und gießt sich Kaffee ein. Sie heißt Evelyn. Nur selten kommt sie nach draußen auf die Straße. Wenn sie dort Bekannte trifft, fragen die, was ihr passiert sei. „Ich sage dann: ‚Jemand hat versucht, mich umzubringen.‘ Dann lachen die immer. Aber ich sage: ‚Ne. Das meine ich ernst.‘ Dann vergeht denen das Lachen.“

Medien verlieren schnell das Interesse an Opfern

Neben schweren Schädelverletzungen und Trümmerbrüchen in den Beinen haben die Ärzte Stichverletzungen im Brust- und Bauchbereich festgestellt. Ihr Freund hatte auf sie eingestochen. Die Zeitungen haben schnell das Interesse an dem Fall verloren. „Die Opfer werden vergessen“, sagt Ilse Haase, die Leiterin der für den Fall zuständigen Außenstelle des Opferhilfevereins Weisser Ring. Sie kümmert sich um Evelyn. „Ich bewundere sie, weil sie solche Lebensfreude ausstrahlt.“
Im Beruf war Ilse Haase als Verwaltungsangestellte bei der Polizei. Heute arbeitet sie ehrenamtlich für den Weissen Ring. Schon beim ersten Treffen mit Evelyn erfuhr Ilse Haase einiges über das Leben der jungen Frau: „Sie ist schon mit vierzehn aus ihrem Elternhaus ausgezogen und hat sich durchgeboxt.“

Gewalterfahrungen in der Kindheit prägen

Als Jugendliche war Evelyn sehr unternehmungslustig. Manchmal haben ältere Freunde sie auf Spritztouren in verschiedene Städte mitgenommen. So lernte sie ihren Freund kennen. „Als ich ihn gesehen habe, sagte ich: ‚Oh, der sieht voll toll aus.‘ Da ist einer der Jungs zu ihm hingelaufen und hat gesagt: ‚Du, die findet dich toll.‘“ Der Junge gab Evelyn seine Telefonnummer. Zwei Wochen später rief sie ihn an. „Er freute sich riesig und hat gefragt, ob er mich besuchen kann.“ Schon damals hatte er Probleme mit dem Gesetz.
Auch Evelyns Jugend war nicht unbeschwert. Mit ihrem Vater gab es häufig Stress. „Er hat auch zugeschlagen, manchmal heftig. Die Polizei hat mich abgeholt und ich kam in diverse Heime, von Bielefeld bis an die Grenze von Polen.“
Solche Erfahrungen in der Jugend prägen das ganze Leben, meint Doktor Jan Brinkmann, Facharzt für Psychiatrie: „Wenn Menschen in der Ursprungsfamilie die Erfahrung gemacht haben, dass sie wenig wert geschätzt werden, dass sie misshandelt werden, dass sie erniedrigt werden, dann ist das ihre Gewohnheit. So ein Muster zu überwinden, fällt schwer.“
Doktor Jan Brinkmann hilft Menschen wie Evelyn, traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten. „Normalerweise beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz bis zu sechs Monate. Für Leute, die in einer akut schwierigen Situation leben, gibt es verschiedene Anlaufstellen. Eine davon ist der Weisse Ring. Der kann schnell Therapieplätze vermitteln.“
Als Evelyn mit ihrem Freund zusammenzog, wollte sie raus aus der staatlichen Fürsorge und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. „Seine Familie hat sich nie bei ihm gemeldet. Er hatte nur noch mich. Seine Kumpels hat er alle aufgegeben. Das waren sehr gefährliche Leute.“
Evelyn merkte nicht, dass ihr Freund mindestens ebenso gefährlich war. Zu der Zeit hätte der junge Mann eigentlich eine Haftstrafe antreten müssen. Er war zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, wegen eines Gewaltverbrechens. Evelyn wusste davon nichts. „Eines Tages hatten wir einen harmlosen Streit. Ich wollte rausgehen, aber er hat mich zu sich gezogen. Dann hat er zugestochen. Ich schrie, aber er machte weiter. Erst als ich rief: ‚Schatz hör auf‘, hat er aufgehört.“
Wenn sie von der Tat erzählt, füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich hatte große Angst, weil er immer wieder mit dem Messer in ein Kissen stach. Während er sich Gedanken darüber machte, wie lange er jetzt ins Gefängnis müsste, dachte ich mir, was passieren würde, wenn er mich wirklich umbringt. Dann versteckt er mich irgendwo und man findet mich erst in ein, zwei Jahren.“
Evelyns Freund ließ sie bluten, fünf Stunden lang. Doktor Brinkmann wundert das nicht. „Ein Großteil der Täter, die auch oft schon verschiedene und mehrere Frauen misshandelt haben, sind sehr gekonnte Verführer, Narzissten. Diesen Männern fehlt es an Empathie.“
Evelyn verlor immer mehr Blut. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie weiß nicht mehr, wie es ihr gelang, das Schlafzimmerfenster zu öffnen. „Ich kann mich noch erinnern, dass ich den Plan hatte, da rauszuspringen. Ich hoffte, dass mich jemand finden würde und mich rettet.“ Sie stürzte achtzehn Meter tief auf ein Autodach. Innerhalb von Minuten gingen sieben Anrufe beim Notarzt ein. Ihr Freund aber rief niemanden an. Er blieb in der Wohnung bis die Polizei kam und ihn festnahm.
Nach Beziehungstaten brauchen die Frauen Unterstützung, um Abstand von der gefährlichen Situation finden zu können. Auch Evelyn kämpft mit widersprüchlichen Emotionen. „Ich habe noch Gefühle für ihn, leider. Auf keinen Fall würde ich zu ihm zurückgehen, aber ich habe ihn jahrelang geliebt. Es war auch eine schöne Zeit.“
Monate nach der Tat kommt es zu einer weiteren Stresssituation: das Gerichtsverfahren. Für Evelyn steht das noch bevor. „Der Gedanke daran macht mir Angst. Dann muss ich mit ihm zusammen im Gerichtssaal sitzen. Mir ist egal, für wie lange er ins Gefängnis kommt. Das was er mir angetan hat, wird mich mein ganzes Leben lang verfolgen. Dafür gibt es keine angemessene Strafe.“
In den vergangenen Jahren hat der Weisse Ring mit Lobbyarbeit und Aufklärungskampagnen dazu beigetragen, dass sich das Bewusstsein für die Rechte der Opfer deutlich verbessert hat. Darauf ist Ilse Haase stolz: „Opfer können heute als Nebenkläger auftreten, Beweisanträge stellen und bei der gesamten Verhandlung dabei sein.“

Noch lange auf den Rollstuhl angewiesen

Trotzdem verspricht sich Evelyn nicht viel von dem Gerichtsverfahren. Sie wird noch lange auf ihren Rollstuhl angewiesen sein und noch länger wird es ihr schwer fallen, Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen. „Wenn ich irgendwann wieder einen neuen Freund haben sollte, dann gibt es ja bestimmt auch mal Streit. Dann werde ich immer Angst haben, dass er denkt: ‚Jetzt bring‘ ich das zu Ende, was der andere nicht hingekriegt hat.‘ So denke ich halt. Mein Freund war ja auch total vernarrt in mich. Wenn jetzt nochmal so eine Person in mein Leben kommt und genauso lieb zu mir ist, muss ich trotzdem Angst haben, dass der mir letztlich auch wehtun wird.“
Doktor Brinkmann meint, es sei besonders wichtig, dass sich die ersten Kontaktpersonen eines Opfers einfühlsam und unterstützend verhalten. „So tragen sie erheblich dazu bei, dass ein Trauma später überwunden werden kann.“

Glücklich über die erfahrene Hilfe

Deshalb können gerade Ehrenamtliche wie Ilse Haase in der Betreuung von Verbrechensopfern sehr wertvolle Unterstützung leisten. Für Evelyn war das sehr wertvoll. „Nach dem Krankenhaus dachte ich, dass ich vergammeln würde. Aber dann kamen die Leute vom Weissen Ring und haben mir mit dem ganzen Versicherungskram geholfen. Ich habe auch finanzielle Unterstützung bekommen. Eine Frau ist gekommen und hat meine Wunden versorgt. Eine andere macht Physiotherapie mit mir. Und meine Nachbarin hier ist einfach super. Die kommt immer, um zu sehen, ob es mir gut geht. Toll, dass ich so viel Hilfe erfahre.“