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Der tägliche Kampf

Millionen sind hierzulande pflegebedürftig. Die meisten werden zuhause gepflegt, oft von Angehörigen. Und da droht der Konflikt. Warum weniger manchmal mehr ist: ein Gedankenanstoß

„Hallo!“ Rita S. schließt die Wohnungstür. „Wie geht es dir heute?“ Rita lächelt. Aber innerlich muss sie die Zähne zusammenbeißen. Denn gleich steht ihr ein Kampf bevor.
Rita S. ist in den Fünfzigern. Zweimal am Tag schaut sie nach ihrem Vater, der pflegebedürftig ist. Essen zubereiten, ein wenig aufräumen. Und, wenn nötig, für die Körperhygiene sorgen. Und da droht der Konflikt.
Rita S. – der Name ist verändert. Ihre Geschichte aber echt. So wie Rita und ihrem Vater geht es Hunderttausenden hierzulande. Immer mehr Menschen werden pflegebedürftig. Bei der letzten Erhebung vor fünf Jahren wurden 2,6 Millionen gezählt. Fast drei Viertel von ihnen werden zuhause gepflegt. Oft von Angehörigen – zusätzlich zu den mobilen Pflegediensten oder auch an ihrer Stelle (Seite 12). Dazu kommen weitere vier bis fünf Millionen Pflegebedürftige, die noch keinen Antrag auf Anerkennung gestellt haben.
Für die Angehörigen ist die Pflege eine Herausforderung. Zwei Drittel von ihnen sind erwerbstätig, reiben sich auf zwischen Beruf, Familie und Pflegeleistung.
Auch bei Rita ist das so. Und: Der Vater kann ganz schön starrköpfig sein. Auch jetzt will er nicht einsehen, dass er gewaschen werden muss und eine neue Windel braucht. Der Vater tobt.
„Manchmal möchte ich alles stehen und liegen lassen und am liebsten gleich wieder gehen“, sagt Rita entnervt. Aber natürlich tut sie das nicht. Sauberkeit ist auch eine Frage von Gesundheit. Schlampt man dort, drohen Infektionen. Und: Wenn es beim Vater unordentlich ist, die Wohnung riecht, fällt das auf die Tochter zurück. „Nachbarn, Bekannte, Familienangehörige oder der Pfarrer – die werden sich bedanken“, sagt Rita. „Und natürlich mir dafür die Schuld geben.“
Sauberkeit und Ordnung – für Rita ist das auch eine Frage der Menschenwürde. Das Problem: Für ihren Vater besteht seine Würde darin, seinen eigenen Willen zu leben. Manchmal ist Rita nah am Nervenzusammenbruch: „Ja, soll ich ihn denn in seinem eigenen Dreck sitzen lassen?“
Das ist das Dilemma: Wo liegt im Fall von Ritas Vater die Würde? Wenn man ihn in seinem befleckten Pullover anschaut – ist der Mensch verwahrlost? Oder lebt er seinen freien Willen?
Gerade für Angehörige ist diese Frage schwer auszuhalten. Es geht nicht allein um Geruch, Urinfleck oder Suppe auf dem Pullover. Sondern um den Vater oder die Mutter, die entschwindet – als Vorbild, Autorität, als vitale Erscheinung. Gegen diese Ohnmacht ist schwer anzukommen. Aber wenn der Vater gewaschen ist, gekämmt, rasiert, im sauberen Pullover und nach Aftershave duftet, lässt es sich leichter ertragen.
Und dennoch: Es kann auch mal helfen, den Vater in Ruhe zu lassen, wenn er partout nicht will. Nicht insistieren. Sondern zuhören. Auch dem Schimpfen. Da sein. Die Hand halten. Aushalten.
Das ist kein Rezept. Keine Anleitung zum besseren Pflegen. Nur ein Gedankenanstoß: Dem Menschen seine Würde lassen – was heißt das im Einzelfall? Vielleicht darf es ja auch mal müffeln.