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Der singende Bürgermeister

Christoph Jäger wollte nie Bürgermeister werden. Sein Großvater und sein Vater waren es, und so kannte er die belastenden Seiten dieses Amtes aus erster Hand. Während seiner Tätigkeit im Landratsamt Waiblingen wuchs in dem Diplom-Verwaltungswirt dann doch der Wunsch, mehr zu bewegen und zu gestalten. Mittlerweile ist der 55-Jährige seit 24 Jahren Bürgermeister von Großerlach im Rems-Murr-Kreis. Als Liedermacher Chris erzählt er immer wieder Geschichten von unscheinbaren Menschen und solchen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Das Vertrauen von Menschen berühre ihn, sagt der Bürgermeister.

Besonders bewegend ist „Winterquartier“, das Lied, das er zum Jubiläum der diakonischen Einrichtung Erlacher Höhe schrieb. Es geht darin um Alex W., der ein unstetes Leben als Tagelöhner führte und eines Tages bei einem Streit im Rausch einem Menschen das Leben nahm. Eine Gruppe Christen besuchte regelmäßig das Gefängnis, in dem er einsaß. Die Ehrenamtliche, die ihn zum Glauben führte, nannte er „mein Engel“. In dem diakonischen Sozialunternehmen fand der lungenkranke Alex Heimat für seinen Lebensabend – und traf hier, in der Erlacher Höhe, seine Jugendliebe wieder, wo die beiden dann auch heirateten. Jäger traute das ungewöhnliche Paar.

Nach Alex‘ Tod sei er der Witwe nochmals während eines Seniorennachmittags in der Großerlacher Gemeindehalle begegnet. Mit Tränen in den Augen habe diese sich bei dem singenden Bürgermeister für den Vortrag von „Winterquartier“ bedankt: „Alex hat kein schönes Leben gehabt und war auch nicht immer ein Guter. Aber über den gibt’s ein Lied“, habe sie ihm gesagt.

Eine ideale Ergänzung ist für Jäger, der sich selbst am Klavier oder Akkordeon begleitet, der Gitarrist Sepp Steinkogler, mit dem er auch seine beiden CDs herausgebracht hat. „Wenn Lieder bei mir im Kopf entstehen, dann sind das oft schon klare Gitarrennummern“, sagt der musikalische Schultes. „Wenn ich denke, das sollte jetzt klingen wie Folk oder Country, dann hat er oft das gleiche Gespür und setzt es genau so um.“ Der sehr persönliche, emotionale Song „Ungebrochen“ beispielsweise sei „eine reine Gitarrennummer mit dezenter Akkordeonergänzung“. Das Trotz- und Dennochlied habe er in einer Lebensphase verfasst, in der er mit Depressionen zu kämpfen hatte.

Auch familiäre Beziehungen besingt er. Mit „Große kleine Schwester“, das auf YouTube über 40.000 Mal angeklickt wurde, können sich offensichtlich viele identifizieren. Da ist die Rede von dem „unsichtbaren Band“, das die Geschwister auch über Entfernungen hinweg „ewig“ verbindet.

Neben Einzelschicksalen, die Jäger einfühlsam musikalisch thematisiert, setzt er gesellschaftliche Statements. In „2020“ thematisierte er die gesellschaftlichen Umbrüche der Coronazeit. „Das fünfte Rad“ ist „all den Menschen gewidmet, die unseren Laden am Laufen halten, sich aber manchmal wie das fünfte Rad am Wagen fühlen“, so der Liedermacher. Ein eindrücklicher Appell an jeden Einzelnen zur Versöhnung ist „Baut Brücken statt Mauern“.

„Weil du mir Heimat bist“, der Eröffnungssong seiner diesjährigen CD „Herzschlag“, ist eine Liebeserklärung Jägers, der aus dem Kaiserstuhl stammt, an seine Wahlheimat, „wo die Waldfee wohnt und wo man Schwäbisch spricht“. Spaziergänge in der Natur mit Hund Tyson wirken denn auch inspirierend auf ihn.

So entstand die Idee zum „Weg der Lieder“, ein Herzensprojekt Jägers, auf das er schon sehr viel positive Resonanz bekommen hat. Der gut 13 Kilometer lange Rundwanderweg durch die Gemeinde Großerlach verbindet Landschaftsgenuss mit Skulpturen verschiedener Künstler, jeweils verknüpft mit einem Lied. Drei künstlerische Darstellungen waren bereits vorhanden – so der Gedenkstein für den polnischen Fremdarbeiter Gacek, der 1942 auf einer Lichtung zwischen Mannenweiler und Wolfenbrück wegen einer Liebesbeziehung zu einer deutschen Magd erhängt wurde und zu dessen Enthüllung Jäger das Lied „Was, wenn es doch nur Liebe war“ komponiert hatte. Weitere Künstler suchten ein Lied zu ihrem neuen Kunstwerk aus.

Der beliebte Großerlacher Bürgermeister hat sich schweren Herzens entschieden, nicht mehr zu kandidieren. Um dieses Amt weitere acht Jahre gut zu meistern, reicht nach seiner Einschätzung seine Kraft nicht. Liedermacher aber will er bleiben. (2906/04.12.2023)