Die Beduinen der Negev-Wüste stehen wie andere israelische Gemeinden unter Beschuss der Hamas. Nur an Schutzräumen und anderen Hilfen fehlt es ihnen. Vom Staat oft übersehen, setzen sich Privatinitiativen für sie ein.
Am 7. Oktober begann die Terrororganisation Hamas, die seit 2007 den Gazastreifen dominiert, ihren blutigen Angriff auf Israel. Ihre Gewalt traf auch die rund 250.000 Beduinen in der Negev-Wüste. Sie trauern um Ermordete, um von Raketen Getötete, und sorgen sich um Vermisste und Entführte. Die Beduinen fallen durch die staatlichen Hilfsnetze. Private Initiativen, die der oft übersehenen Beduinengemeinschaft beistehen, stoßen auf Widerstand. Aber sie treffen auch auf viele helfenden Hände.
19 Tote beklagen die Beduinen seit Beginn des Krieges; 7 werden seit 7. Oktober vermisst. Es sei schwer auszuhalten, sagt Naima Ziadna, Ehefrau des vermissten Jusef (53) und Mutter der drei ebenfalls vermissten Hamza (22), Bilal (19) und Aischa (17). Während Freiwillige ein Spielprogramm organisieren, um den rund 100 Kindern im behördlich nicht anerkannten Beduinendorf Birket al-Batr-Ziadna ein paar Stunden Ablenkung zu bieten, hebt Naima wieder und wieder die Arme flehend zum Himmel, preist Gottes große Güte. Der Glaube gebe ihr Kraft, sagt sie unter Tränen, und dass Gott ihre Kinder und ihren Mann zurückbringen möge.
Wie immer seien Jusef und die anderen morgens zum Kibbuz Holit aufgebrochen, zum Kühemelken, erzählt Naimas Tochter Jasmin. Um sieben dann sei der Kontakt abgebrochen. Von Aischa und Jusef fehlt seither jede Spur. Bilal und Hamza hat die Familie auf Bildern der Hamas im Gazastreifen erkannt. Seither kennt sie nur einen Gedanken: “Dass unsere Familie zurückkommt, dass dieser Krieg aufhört und alle Geiseln ausgetauscht werden.”
Cousine Salma (14) würde ihre Gedanken gerne verdrängen. Auch sie war an diesem verhängnisvollen Schabbatmorgen in Holit, zusammen mit ihrem Vater und drei Geschwistern – “den freien Tag genießen und ein bisschen rauskommen”. Als die Raketen flogen, suchten sie Schutz – bis die Hamas kam und alle fünf ein paar hundert Meter weit in den Gazastreifen verschleppte.
Ihnen gelang die Flucht, als die Entführer von israelischen Flugzeugen abgelenkt waren. Salma erzählt von einer Odyssee bis abends um zehn; von marodierenden Bewohnern von Gaza, die nach der Hamas in den Kibbuz kamen; von verbaler Gewalt, Plünderung und dem Schutz der israelischen Sicherheitskräfte. Das Reden fällt ihr schwer.
Über einen anderen Jusef aus dem Stamm Ziadna hingegen redet in diesen Tagen jeder in Rahat. Am Freitagabend hatte der Minibusfahrer eine Gruppe Partygänger beim Supernova-Festival im Kibbuz Re’im abgesetzt, sollte sie am Samstagabend wieder abholen. Doch am Morgen flogen die Raketen. Er habe “keine Sekunde gezögert”, sagt Jusef Ziadna. Sich in sein Auto gesetzt. Die gut 40 Kilometer unter Beschuss zurückgelegt. Schon auf dem Weg habe er zwei fliehende Menschen gerettet, habe im Straßengraben gelegen, während die Kugeln über ihre Köpfe geflogen seien. “Ich habe mir gesagt: Ich gebe mein Leben auf, wenn es mir nur gelingt, sie zu retten.”
Ziadna schafft es nach Re’im und zurück, rettet 30 Menschen das Leben. Mindestens 260 Mitfeiernde schafften es nicht; sie wurden ermordet. Die Bilder, sagt Ziadna, der seither psychologisch behandelt wird, “gehen mir nicht mehr aus dem Kopf; sie lassen mich nicht mehr schlafen”.
Das erzählt Ziadna auch Benny Gantz, der die Kommandozentrale einer Bürgerinitiative in Rahat besucht. Zuvor Oppositionspolitiker, trat Gantz kurz nach Kriegsbeginn einer Notstandsregierung bei und sitzt nun mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant im Kriegskabinett. Er habe als Israeli seine Bürgerpflicht getan, sagt Jusef Ziadna zu Gantz. “Ich hoffe, der Staat weiß das zu schätzen.”
Der Staat und die Beduinen, das sei so eine Sache, sagen sie in der Negev-Wüste. Die Hälfte der Beduinen leben in 35 nicht anerkannten Dörfern, viele in Zelten oder improvisierten Hütten. Schutzräume und Möglichkeiten zur Selbstverteidigung etwa – in den jüdischen Kibbuzim entlang der Grenze zum Gazastreifen eine Selbstverständlichkeit – fehlen hier.
“Jeder direkte Einschlag bedeutet Tote”, sagt Taleb al-Sana, Beduine, Rechtsanwalt und von 1992 bis 2013 Abgeordneter im israelischen Parlament, der Knesset. Jetzt setzt er sich dafür ein, dass in der Beduinenregion Betonschutzräume aufgestellt werden können. “Der Staat muss das nicht für uns machen – aber er soll sie zumindest nicht wieder abreißen”, so al-Sana. Seit Jahren stehen viele der Dörfer unter dem Risiko, abgerissen zu werden. Seit Jahresbeginn haben die Evakuierungs- und Abrissbefehle nach Beobachtung von Menschenrechtsgruppen zusätzlich zugenommen.
Die Vertreibungserfahrung steht zwischen den Beduinen und dringend benötigten Zufluchtsorten, sagt Naama Cohen. Die jüdische Israelin hat in Jerusalem eine Beduinenhilfe ins Leben gerufen. Selbst dort, wo eine temporäre Lösung gefunden werden könnte, weigerten sich viele, ihre unsicheren Häuser zu verlassen – “aus Angst, dass man sie nicht zurücklassen wird”. Viele der Betroffenen haben keine Staatsbürgerschaft und damit keinen Status im israelischen Staat. Sie arbeiten schwarz, sagt Cohen. Mit dem Krieg kam die Angst, zur Arbeit zu gehen, und mit dem fehlenden Einkommen die Versorgungslücke. Deshalb, und “weil es sonst keiner tut”, sammelt Naama Cohen mit bislang 200 Freiwilligen Hilfsgüter.
“Beduinen sind in Israel eine quasi durchsichtige Gemeinschaft; kaum einer sieht sie”, so Cohen. Nicht bei allen stößt ihre Aktivität auf Begeisterung. “Manche haben das Gefühl: Wir stehlen von den Soldaten, für die ebenfalls gesammelt wird.” Ihre erste Sammelstelle musste das Team deshalb nach wenigen Stunden aufgeben. Dass gleich vier Institutionen sich als Ersatzgastgeber angeboten haben, stimmt die 29-Jährige ebenso hoffnungsvoll wie die eintreffenden Spenden, “sei es in Sachspenden oder Geld, mit dem wir Lebensmittel kaufen”.
Hilfspakete schnürt man auch in Rahat: Beduinen und Juden gemeinsam, für Beduinen und Juden. “Wir leiden unter dem gleichen Leid und müssen zusammenstehen”, sagt Fuad Ziadna, der sich in der gemeinsamen Initiative engagiert. Kiloweise Öl, Thunfisch, Tomatenmark, Nudeln, Zucker und sonstige Lebensmittel landen in den Pappkartons. “Die Packaktion ist ein Beispiel für Harmonie und gibt Hoffnung trotz des Schmerzes”, meint Hagit Rivlin. Einer ihrer Söhne hat sieben Freunde im Kibbuz Re’im verloren und ist derzeit in der Armee. Ein zweiter engagiert sich als Freiwilliger in Haifa.
“Gemeinsam zu helfen und diese Partnerschaft aufzubauen, hilft auch uns”, glaubt Aischa Ziadna, eine der Verantwortlichen. Damit wolle man “den Geist der Region ändern” und Hoffnung geben. Alle hier hofften auf ein schnelles Ende der Gewalt – und auf die gesunde Rückkehr aller Geiseln.