USA: Bistümer zahlen Milliarden an Opfer
Nach Angaben der US-Bischofskonferenz sind zwischen 1950 und 2018 rund 7.000 Geistliche “glaubwürdig” oder “nicht unplausibel” des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Bezogen auf die Gesamtzahl von etwa 118.000 Priestern, die in diesem Zeitraum landesweit tätig waren, entspricht das einem Anteil von 5,9 Prozent. Die Zahl der bekannten Opfer wird mit gut 20.000 angegeben.
Laut dem “Bishop Accountability Project” haben bislang 160 Bistümer und 32 Orden Listen mit Missbrauchs-Geistlichen vorgelegt. Die Organisation weist auf Datenlücken der Bischofskonferenz für 2003, 2014 und 2017/18 hin; die tatsächliche Zahl der mutmaßlichen Täter dürfte demnach etwas höher sein. Das Projekt bietet Zugang zu einer Datenbank mit Informationen über angeklagte Priester, sortiert nach Bistümern und Orden, sowie zu Kirchen- und Gerichtsdokumenten.
Die US-Bischofskonferenz hat zugesagt, mit den öffentlichen Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Opfer werden auf der Website aufgefordert, Strafanzeige zu erstatten, die lokale Kinder- und Jugendschutzbehörde zu informieren, einen Anwalt, eine Unterstützergruppe, Hotline und/oder Psychologen einzuschalten. Auf Bistumsebene gibt es Opfer-Koordinatoren, die formale Beschwerden annehmen; und es gibt einen Link zu einer Organisation, die Bischöfe zur Verantwortung ziehen kann, die Missbrauch zu vertuschen versuchen.
Die katholischen US-Bistümer haben bislang rund drei Milliarden Dollar an Opfer gezahlt. Laut BishopAccountability.org liegt die durchschnittliche Entschädigungssumme bei 268.000 Dollar. 28 US-Diözesen sowie drei Orden haben Insolvenz angemeldet.
Australien: Einzigartige Kommission arbeitet Missbrauch auf
Mit der Einsetzung einer weltweit wohl einzigartigen Kommission ist Australiens Regierung dem Ausmaß von sexuellem Kindesmissbrauch in gesellschaftlichen Institutionen wie Sport und Unterhaltungsindustrie, Krankenhäusern und Vereinen, Kirchen und Religionen auf den Grund gegangen. Seit dem Abschlussbericht vom Dezember 2017 mit mehr als 400 Empfehlungen arbeiten Staat und Institutionen an einer “nationalen Präventionsstrategie”.
Die katholische Kirche als am stärksten betroffene Institution hat mit der 2020 gegründeten Firma Australian Catholic Safeguarding reagiert, die professionelle Verhaltensstandards entwickelt. Sie ist zudem – wie auch andere Kirchen und Institutionen – Mitglied des vom Staat gegründeten und verwalteten “National Redress Scheme” zur Zahlung von Entschädigungen. Betroffene können zwischen 6.700 und 100.000 Euro aus dem Fonds erhalten.
Der Missbrauchsskandal und die Gewinnung neuen Vertrauens war 2022 auch ein großes Thema im sogenannten Plenarkonzil der katholischen Kirche. Auf entschiedenen Widerstand der Kirche stößt jedoch die inzwischen von mehreren australischen Bundesstaaten umgesetzte Empfehlung der Missbrauchskommission, Priester im Fall von Missbrauchsbekenntnissen gesetzlich zum Bruch des Beichtgeheimnisses zu verpflichten.
Italien: Wenig Aufmerksamkeit für Thema Missbrauch
Italiens Bischöfe haben sich lange Zeit nicht zu einer landesweiten Missbrauchsstudie durchringen können. Im November 2022 präsentierte die größte Bischofskonferenz Europas erstmals Zahlen. Um nicht längst verjährte Fälle mit bereits gestorbenen Tätern aufarbeiten zu müssen, wurde der Zeitraum der Untersuchung auf die vergangenen 20 Jahre begrenzt.
Demnach übermittelten die rund 220 Bistümer des Landes in diesem Zeitraum 613 Akten zu mutmaßlichen Missbrauchsfällen an die Glaubensbehörde im Vatikan. Sie ist für die weitere Bearbeitung zuständig. Um wie viele Einzelfälle es sich handelt, soll eine weitere Untersuchung der Akten klären.
Betroffene können sich seit 2019 an spezielle Stellen in den Bistümern wenden. Mittlerweile gibt es rund 90 solcher Einrichtungen. Laut der Auswertung im Auftrag der Bischofskonferenz wurden die Zentren 2020/21 insgesamt 86 mal kontaktiert.
Insgesamt ist in Italien die Aufmerksamkeit für das Thema Missbrauch in der Kirche relativ gering. Zwar berichten Medien immer wieder über einzelne Fälle. Großer öffentlicher Druck hat sich bislang aber nicht aufgebaut.
Spanien: Kirche beauftragt Kanzlei
Eine systematische Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche in Spanien begann Anfang 2022. Nach Veröffentlichung eines Berichts der Zeitung El Pais nahm der öffentliche Druck immer weiter zu. Die Recherchen enthielten Hinweise zu Hunderten einschlägigen Fällen. Spaniens Bischofskonferenz stellte die Substanz der Vorwürfe infrage und vertrat zunächst die Ansicht, dass ein landesweiter unabhängiger Untersuchungsprozess nicht nötig sei. Man bevorzuge eine dezentrale Vorgehensweise.
Schließlich beauftragten die Bischöfe – ähnlich wie in Deutschland – eine private Anwaltskanzlei. Vorläufige Ergebnisse gehen davon aus, dass seit 1945 mindestens 927 Minderjährige in den Reihen der Kirche missbraucht wurden. Der abschließende Bericht soll in den nächsten Wochen veröffentlicht und der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden. Zudem sollen die Anwälte eine mögliche finanzielle Wiedergutmachung prüfen.
Ungeachtet der kirchlichen Initiative beschloss das spanische Parlament parallel die Einrichtung einer unabhängigen Expertenkommission zur Untersuchung von Missbrauch im kirchlichen Umfeld. Geleitet wird sie von einem Ombudsmann, dem früheren Bildungsminister Angel Gabilondo.
Portugal: Entschädigung bleibt ungeklärt
Mehr als 4.800 Kinder sind in Portugal in den vergangenen 70 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs aus den Reihen der katholischen Kirche geworden. Das ist das Ergebnis eines zu Jahresbeginn vorgestellten Berichts einer unabhängigen Kommission unter Leitung des Experten Pedro Strecht. Dabei handele es sich um eine Mindestzahl.
In dem Abschlussbericht, an dem über ein Jahr lang gearbeitet wurde, sind unter anderem 512 bestätigte Zeugenaussagen enthalten. Die Übergriffe fanden demnach vor allem in katholischen Seminaren, Heimen, Schulen oder Sporteinrichtungen statt. Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag bei knapp gut elf Jahren. In den meisten Fällen (mehr als 70 Prozent) waren Priester die Täter. Weil die in der Untersuchung behandelten Vorkommnisse überwiegend strafrechtlich verjährt sind, wurde nur in 25 Fällen die Staatsanwaltschaft informiert.
Portugals Bischofskonferenz versprach, alles Notwendige zu tun, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Die Entschädigungsfrage ist jedoch bislang ungeklärt.
Nigeria: Missbrauch wird kaum angezeigt
In Nigeria, dem mit 220 Millionen Einwohnern größten Land Afrikas, haben in den vergangenen Jahren Fälle von sexuellen Übergriffen in Verbindung mit christlichen Kirchen für Entsetzen gesorgt. Zu landesweiten Protesten kam es nach der Ermordung einer Biologiestudentin in der Stadt Benin City. Als sie in einer leeren Kirche für eine Prüfung lernen wollte, wurde sie überfallen, vergewaltigt und getötet.
Polizeilich aufgearbeitet werden die Vorfälle allerdings so gut wie nie. Das Justizsystem ist schwach. Eine Ausnahme war eine Verhandlung in Port Harcourt im Juli. Ein Gericht sah als erwiesen an, dass ein Pastor eine 15-Jährige vergewaltigt hatte. Das Mädchen wurde schwanger, der Pastor zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.
Dass Missbrauch kaum angezeigt wird, hängt auch mit Angst vor Stigmatisierung der Opfer und ihrer Familien zusammen. Auch fehlt ihnen häufig das Geld für die Prozesskosten. In der katholischen Kirche haben Bistümer Kommissionen für den Schutz von Minderjährigen und Erwachsenen eingerichtet. Dort wird auch über Missbrauchsfälle beraten.
Dennoch bleibt sexueller Missbrauch ein Tabuthema; öffentlich wird darüber nicht debattiert. In Gesprächen wird mitunter zudem behauptet, sexueller Missbrauch durch Priester geschehe in Europa und Nordamerika, kaum aber in Afrika.
Polen: Experten sollen aufarbeiten – irgendwann
Bei der katholischen Kirche in Polen sind 2022 laut offizieller Statistik 80 Priester und Ordensbrüder wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger angezeigt worden. Ein Jahr zuvor wurden demnach sogar 139 Geistliche solcher Straftaten beschuldigt. Die Vorwürfe beziehen sich nach Angaben der Bischofskonferenz auf die Jahre 1955 bis 2022. Die Kirche berichtet seit 2019 über die Ergebnisse ihrer diesbezüglichen Abfragen bei Bistümern und Ordensgemeinschaften.
Die Bischofskonferenz kündigte im März 2023 an, sie werde ein unabhängiges Expertenteam zur Aufarbeitung berufen. Wann dies geschieht, ist noch unklar. Die staatliche Aufarbeitungskommission für Missbrauchsfälle beklagt eine Weigerung der Bischöfe, Akten an sie herauszugeben. Der frühere Vatikanbotschafter in Polen, Erzbischof Salvatore Pennacchio, soll darauf hingewiesen haben, dass Akten kirchenrechtlicher Verfahren nur vom Heiligen Stuhl ausgehändigt werden könnten, auch wenn die Diözesen selbst über Kopien verfügten.
In Polen verhängte der Vatikan 2021 gegen so viele Bischöfe Disziplinarstrafen wegen Pflichtvernachlässigung in Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen wie in keinem anderen Land. Etwa zehn zumeist emeritierte Bischöfe mussten Beträge an eine Kirchenstiftung zahlen, die Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen unterstützt. Zudem dürfen die meisten bestraften Bischöfe entweder in ihren früheren Diözesen oder überhaupt an keinen öffentlichen Gottesdiensten mehr teilnehmen.