Lied Nummer 143. Das lieben sie: „Du vergibst mir alle Schuld.“ Dann singen sie, als ob sie mit ihrem Gesang die meterhohen Mauern der Justizvollzugsanstalt in Werl einreißen könnten. „Gott hört dein Gebet“ ist auch so ein Lied. „Wenn die Last der Welt dir zu schaffen macht, hört er dein Gebet. Wenn dich Furcht befällt vor der langen Nacht, hört er dein Gebet.“
Einmal in der Woche probt der Chor der Gefangenen im Kirchenraum der JVA in Werl. Immer mittwochs. Die meisten der knapp 20 Sänger kommen regelmäßig, für sie ist die Chorprobe eine absolute Abwechslung im sonst oft öden Tagesablauf. „Der Chor“, wird einer von ihnen später an diesem Abend sagen, „ist so etwas wie eine Insel für mich, auf die ich für 90 Minuten flüchten kann.“
Wenn Kirchenmusiker Stefan Lepping sich an das schon etwas betagte Klavier setzt und mit energischer Stimme zur Ruhe mahnt („Quatschen könnt ihr gleich beim Kaffee“), legen die Männer eine erstaunliche Disziplin an den Tag und folgen Leppings Anweisungen ohne Murren.
Seit über zehn Jahren leitet der Werler den Chor. Ehrenamtlich. „Das hat sich irgendwie so ergeben“, sagt der studierte Musiker. Schon immer sei er sozial engagiert gewesen und habe ein großes Interesse an Menschen am Rande der Gesellschaft: „Da ist die Leitung eines Chores in einem Gefängnis eine sinnvolle und auch wunderbare Aufgabe.“
Dass er bei dieser „wunderbaren Aufgabe“ mit Männern zusammenkommt, die oft schweres Leid über andere gebracht haben, weiß Lepping natürlich. Damit setzt er sich auch kritisch auseinander. Aber es ist gerade auch diese Zerrissenheit, die ihn an seiner Aufgabe reizt: „Trotz der Schuld, die sie auf sich geladen haben, sind das wertvolle Menschen – in all ihrer Gebrochenheit. Die konkreten Delikte interessieren mich dabei eigentlich gar nicht. Das sind oft Taten, die in wenigen Augenblicken geschehen sind.“
„Eine sinnvolle und auch wundervolle Aufgabe“
Thorsten nutzt die heutige Probe zu einem Statement. Wenn schon ein Journalist von der UK kommt, kann man ja gleich auch mal sagen, was man von der Institution Kirche hält: „Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, Inquisition. Wir wissen wie man feiert. Ihre Kirche“, steht auf seinem T-Shirt. „Stimmt das etwa nicht?“, fragt der Hüne provozierend, strafft seinen Körper, damit das T-Shirt besser zur Geltung kommt, und ergänzt. „Hat schließlich alles stattgefunden. Alles im Namen der Kirche.“
Thorsten ist 44 Jahre und verbüßt eine langjährige Haftstrafe. Er hat ein großes, börsennotiertes Unternehmen um 750 000 Euro betrogen. Das hat ihm fast fünf Jahre Haft eingebracht. Vor dem Antritt seiner Gefängnisstrafe hat er mit dem „Thema Kirche“ nicht allzu viel am Hut gehabt: „Ich bin zwar konfirmiert und auch im christlichen Glauben erzogen worden, aber es gab eine Zeit in meinem Leben, da habe ich mich von der Kirche und dem Thema Glauben abgewendet. Aber jetzt bin ich wieder voll eingestiegen.“
Jeden Abend, so erzählt er beim traditionellen Kaffeetrinken nach der Chorprobe, betet er. „Das ist mir hier drinnen eine große Hilfe.“ Nach „25 Jahren Sendepause“ habe er wieder Kontakt zu seinem leiblichen Vater aufgenommen. „Dabei hat Gott mir geholfen.“ Wenn er entlassen wird, wird ihn einer seiner ersten Wege zu seiner evangelischen Kirchengemeinde in Dortmund führen: „Dort will ich mich ehrenamtlich engagieren. Ich hoffe, dass mir das bei meinem neuen Leben da draußen helfen wird.“
Mörder, Totschläger, Sexualverbrecher, Räuber, Erpresser, Betrüger – Gefängnisseelsorger Adrian Tillmanns versammelt bei jeder Chorprobe einen beachtlichen Querschnitt aus dem Strafgesetzbuch um sich. Die einzelnen Straftaten spielen für den Pfarrer, der seit über fünfzehn Jahren in der Gefängnisseelsorge – zehn davon in Werl – arbeitet, dabei keine Rolle: „Damit beschäftige ich mich in der Regel nicht.“
Für ihn zähle nur der Mensch: „Es liegt nicht an uns, sondern allein an Gott selbst, wem er vergibt und wem nicht. Uns steht darüber kein Urteil zu, sondern wir sollten uns bemühen, in jedem Menschen – auch bei dem, der viel Leid über andere gebracht hat – einen von Gott geliebten Menschen zu erkennen. So schwer das im Einzelfall auch sein kann.“