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Demokratie ist zerbrechlich

Hinterher ist man immer schlauer: Geschichtsbücher haben den Vorteil, dass sie sich nur mit dem beschäftigen müssen, was schon passiert ist. Aber: Kann man daraus für die Zukunft lernen?

Kann man aus der Geschichte lernen? Das Jahr 2019 bietet reichlich Anlass dazu, diese Frage zu stellen. Denn es wartet mit zahlreichen Gedenktagen und Jubiläen auf (Seite 11). Vor 250 Jahren etwa wurde Napoleon Bonaparte geboren, der Europa mit Krieg überzog, aber auch die Grundlagen legte für eine neue  Ordnung. Vor 100 Jahren entstand die Weimarer Republik. Vor 70 Jahren folgten BRD und DDR.
Kann man daraus lernen?

Ja. Natürlich. Einerseits. Jeder kennt das aus dem eigenen Leben. Man wäre verrückt, wenn man nicht auf Erfahrungen und Erlebnisse zurückgriffe, die man selbst oder auch andere schon gemacht haben. Das kann vor erneuten Fehlern bewahren. Und bessere Wege in die Zukunft zeigen.

Andererseits: Geschichtsbücher sind keine Bedienungsanleitungen. Sie funktionieren nicht nach dem Prinzip: Weil Napoleon damals die Macht ergriff, wissen wir heute ganz genau, wie wir mit einem Trump umgehen müssen. Oder Putin. Oder Erdogan.
Das geht schon deshalb nicht, weil die Umstände zu unterschiedlich sind. Wer sich mit komplexen Systemen beschäftigt, weiß: Schon das Verändern eines einzigen Umstandes („Parameter“) kann das Ergebnis komplett verändern.

Es funktioniert aber auch deshalb nicht, weil die Geschichte so klar und eindeutig nun nicht ist. Sie ist immer auch eine Angelegenheit von Ansicht und Bewertung. In den Geschichtsbüchern der DDR sah vieles komplett anders aus als in Westdeutschland. Und in China ganz anders als in den USA. Und: Erkenntnisse ändern sich im Laufe der Zeit. Der Völkermord in Armenien ist ein Beispiel dafür. Oder die Frage, wie Staaten ihr geschichtliches Verhältnis zu ihren Ureinwohnern bewerten – etwa in Australien oder den USA.
Also Vorsicht, wenn jemand sagt: Die Geschichte zeigt, dass … Beweise wird man dort nicht finden.

Das befreit aber nicht von der Pflicht und der Notwendigkeit, wenigstens zu versuchen, diese Lehren zu ziehen. Und zwar stets und immer wieder. Wenn wir 2019 solche Lehren ziehen wollten, dann wären es vielleicht diese:

• Nie wieder Europa oder die Welt mit Krieg überziehen.

• Demokratie ist wertvoll – und zerbrechlich. Man muss gut auf sie aufpassen; gerade jetzt, wo sie von so vielen Seiten gefährdet ist.

• Die Spaltung der Gesellschaft darf nicht weitergehen. Das ist eine noch immer unterschätzte Herausforderung. Wir müssen wieder lernen hinzuhören, zuzuhören. Den Hass zu überwinden. Dazu zählt auch, die soziale Ungerechtigkeit in den Griff zu kriegen. Die Trennung in Reich und Arm, die Vertiefung in eine neue Zweiklassengesellschaft.

• Europa muss gestärkt werden – vielleicht auch neu erfunden. Denn: Ohne Europa wird Friede auf Dauer nicht möglich sein.

• Und: Wir müssen wieder lernen, Kompromisse einzugehen. Demokratie ist die Kunst des Kompromisses.

Klingt einfach. Ist schwer. Aber wert, als Vorsatz für 2019 ganz nach oben zu rücken.