Missbrauch von Kindern galt lange als Problem der katholischen Kirche. Jetzt zeigt eine Studie, dass auch die evangelischen Landeskirchen nicht besser dastehen. Die Debatte wiederholt sich.
Nach der Vorstellung der Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche geht die Debatte über Konsequenzen weiter. Mehrere leitende Geistliche zeigten sich am Freitag irritiert über den Vorwurf der Wissenschaftler, nicht alle Informationen zur Verfügung gestellt zu haben.
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Thorsten Latzel, sagte der “Kölnischen Rundschau”: “Wir haben bei uns im Rheinland alle Personal- und Disziplinarakten auf landeskirchlicher Ebene durchgesehen und die Informationen dazu auch weitergegeben.”
Latzel kündigte eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an. So wolle die rheinische Landeskirche gemeinsam mit den Landeskirchen von Westfalen und Lippe nun eine eigene große Regionalstudie in Auftrag geben. Latzel beklagte den ungleichen Umgang mit Anerkennungsleistungen in den Landeskirchen. Notwendig seien “einheitliche, verlässliche Standards in allen 20 Landeskirchen, die wir mit den Betroffenen gemeinsam klären”.
Die Studienautoren hatten bei der Vorstellung am Donnerstag scharf kritisiert, dass trotz vertraglicher Abmachung nur eine von 20 Landeskirchen neben den Disziplinarakten auch die aussagekräftigeren Personalakten ausgewertet habe.
Der Berliner evangelische Bischof Christian Stäblein hält die Studie für einen “ersten, ganz wichtigen Schritt” zur Aufarbeitung, aber noch nicht für ausreichend. “Wichtig ist, dass das Dunkelfeld aufgearbeitet wird, also dass das, was noch nicht aktenkundig ist, aufgedeckt wird, und daran arbeiten wir”, sagte er im rbb-Inforadio. Stäblein betonte, dass es mehr Ressourcen brauche, um jetzt noch die Personalakten zu durchforsten.
Auf die Frage, ob die Kirche bereit sei, sich externen Fachleuten zu öffnen, antwortete der Bischof: “Ich denke, wir müssen unbedingt. Und die Studie zeigt noch mal, wie sehr wir an dieser Stelle versagt haben.” Die Kirche habe Betroffene nicht ausreichend geschützt, nicht ausreichend gehört und auch die Aufarbeitung verschleppt.
Laut der EKD-Studie wurden in der gesamten evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie nach einer “spekulativen” Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Zahl der Beschuldigten liegt demnach bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrer oder Vikare.
Sachsens evangelischer Landesbischof Tobias Bilz zeigte sich nicht überrascht von den Ergebnissen: “Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen und konsequent handeln”, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Landeskirche habe “alles vorgelegt, was von uns erwartet wurde”. Zugleich betonte er: “In unserer Landeskirche hat es in den vergangenen drei Jahren einen wirklichen Schub gegeben, wie wir die Dinge aufarbeiten.”
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack geht von einer Verschärfung der Kirchenkrise aus. Als Folge der Studienergebnisse rechne er mit weiterhin hohen Austrittszahlen auch aus der evangelischen Kirche, sagte er der KNA.
Zugleich zeigte sich Pollack überrascht davon, dass auch der Missbrauch in der evangelischen Kirche ein Männlichkeitsphänomen sei. Die Taten seien demzufolge nicht in erster Linie auf den Zölibat in der katholischen Kirche zurückzuführen. Laut der Forum-Studie waren rund 64,7 Prozent der Opfer männlich und rund 35,3 weiblich. Bei den Beschuldigten handelt es sich fast ausschließlich um Männer (99,6 Prozent).
Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, appellierte an die Landeskirchen, alle Akten auszuwerten. Bei der Aufarbeitung müssten klare Strukturen geschaffen und auch Machtstrukturen hinterfragt werden, sagte sie im Deutschlandfunk. Auch müsse es eine Ombudsstelle außerhalb der Kirche geben, an die Betroffene sich wenden könnten.
Die Theologin zeigte sich erschüttert über aus Ausmaß des Missbrauchs, aber auch über die Vertuschung. Sie habe immer gedacht, dass ihre Generation anders mit Missbrauch umgegangen und offen dagegen vorgegangen wäre. “Das stimmt nicht”, räumte sie ein.