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Chefin des Literaturarchivs Marbach: Klassiker in die Schulen

Das Deutsche Literaturarchiv startet am Montag eine Bildungsinitiative. Die Direktorin der Einrichtung erläutert, warum Klassiker wie Goethe und Schiller auch heute noch unbedingt in der Schule gelesen werden sollten.

Das Deutsche Literaturarchiv (DLA) nimmt verstärkt Schüler und Schülerinnen in den Fokus: Am Montag startet das Haus eine Bildungsinitiative unter dem Motto “Literatur bildet”. Was sich dahinter verbirgt und was das Lesen von Klassikern der Literatur in den Schulen bedeutet, erläutert DLA-Chefin Sandra Richter in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Marbach. Zudem stellt sie klar, warum sowohl die Etablierung eines Literatur-Kanons als auch dessen kritische Begleitung wichtig sind.

KNA: Frau Richter, was hat es mit der neuen Bildungsinitiative Ihres Hauses auf sich?

Richter: Sie richtet sich an Schulen und an die Öffentlichkeit. An unserem ersten “Bildungstag” am Montag finden Workshops zu den Themen Exil und Antisemitismus in den 1930er und 1940er Jahren statt. Angesprochen sind Schülerinnen und Schüler ab Klasse 9. Beispielsweise geht es um Else Lasker-Schüler, die für ihre Werke vielfach angefeindet wurde, oder um Thomas Manns Radioansprachen während des Zweiten Weltkriegs.

KNA: Sollten Klassiker wie Goethe und Schiller heute noch gelesen werden?

Richter: Sie gehören unbedingt in die Lehrpläne aller Jahrgangsstufen und Schularten, vor allem natürlich der Oberstufe. Schillers “Wilhelm Tell” etwa ist ein ungemein wichtiges Werk zur Frage, wie gehen wir mit Tyrannen um? Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Beschäftigung mit einer uns heute fremden Sprache erscheint mir wichtig in einer Zeit, in der vieles auf unmittelbare Zwecke ausgerichtet ist. Literatur ist nichts Altes, Abgelegtes und Verzopftes, sondern etwas, was uns unmittelbar ansprechen kann.

KNA: Warum sollten sich junge Menschen generell mit Literatur beschäftigen?

Richter: Literatur erlaubt uns einen Zugang zur Welt, der sinnliche Erfahrung ermöglicht. Und Wege zeigt, wie wir sprachlich miteinander umgehen. Wir lernen, uns nicht nur so schlicht und einfach wie möglich auszudrücken, sondern so schön oder kontrovers wie möglich.

KNA: Goethe und Schiller gehören zum Kanon der Literatur – was versteht man genau unter diesem Begriff?

Richter: Der Kanon besteht aus einem Werke- und einem Wertekanon. Der Werkekanon richtet sich nach dem, was gelesen wurde und wird und was in der Regel ein kulturelles Prestige hat. Kanon ist also immer etwas, was sich durch seinen Gebrauch ausweist. Wenn wir davon ausgehen, dass Goethes Faust ein kanonischer Text ist, dann wissen wir, dass sich Lesende vieler Generationen damit befasst haben, dass er auf die Bühne gekommen ist. Kurz: Dass es ein Text ist, der die Menschen beschäftigt, über die Zeit seiner Verfertigung hinaus. Hier beginnt der Wertekanon: Warum lesen wir einen Text wie den “Faust”? Weil darin Existenzielles dargestellt wird. Wir sehen ein exemplarisches Menschheitsdrama, etwas Amoralisches, was uns zugleich anzieht und herausfordert. “Faust II” nimmt auch die Klima- und Finanzkrise quasi vorweg.

KNA: Ist der Kanon nicht etwas von alten, weißen Männern?

Richter: Es gehört zum Kanon, dass er immer wieder für Diskussionen sorgt: Wollen wir mehr Autorinnen, wollen wir mehr Menschen, die nicht deutsche Muttersprachler sind, in unserem Kanon abbilden? Diese Fragen müssen wir uns immer wieder neu stellen. Kanon muss lebendig sein, er ist nie abgeschlossen, sondern muss sich stets erneuern. Kanonkritik ist ebenso gut und richtig wie das Etablieren eines Kanons. Beides gehört zusammen.

KNA: In einem Interview bezeichneten Sie das Literaturarchiv als “Kanonisierungsverstärker”. Was meinen Sie damit?

Richter: Das Literaturarchiv prägt und verstärkt den Kanon – in dem es zum einen auf die Literatur reagiert, die in Öffentlichkeit und Wissenschaft diskutiert wird. Zum anderen verstärkt es diese Diskussionen, wenn es Vor- und Nachlässe erschließt, erforscht, vermittelt. Was für archivierungswürdig erachtet wird, ist zwangsläufig auch kanonverdächtig. Insofern ist das Literaturarchiv eine ganz wesentliche Institution des Kanons.