Westliche Diplomaten verlassen die Hauptstadt; der Erzbischof warnt vor einem Bürgerkrieg, Haitis Regierungschef ist abgetaucht. Der Karibikstaat versinkt weiter in Anarchie.
Der deutsche Botschafter in Haiti wird laut Medienberichten mit dem Hubschrauber aus Port-au-Prince ausgeflogen. Die USA schicken Soldaten, um ihre Botschaft in der Hauptstadt zu sichern. Die Ereignisse am Wochenende zeigen, wie es um die Lage in dem bettelarmen Karibikstaat bestellt ist. Nicht einmal mehr das diplomatische Spitzenpersonal ist mehr sicher.
“Insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince kann man die Lage nur als katastrophal beschreiben, und sie hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten noch einmal verschlechtert”, beschreibt der Mediziner Tankred Stöbe von “Ärzte ohne Grenzen” im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Die Menschen haben praktisch keine Möglichkeiten mehr, sich frei zu bewegen, weil sie überall von Gewalt bedroht sind.”
Offenbar versuchen bewaffnete Banden, die bereits ein Großteil der Millionenstadt kontrollieren, nun das ganze Land unter ihre Gewalt zu bringen. Berichte über Schießereien am Flughafen und rund um den Nationalpalast weisen auf einen Machtkampf hin. Der bekannteste Bandenchef, Jimmy “Barbecue” Cherizier, hatte vor wenigen Tagen vor einem Völkermord gewarnt, sollte der umstrittene Ministerpräsident Ariel Henry nicht zurücktreten. Die USA erhöhten den Druck und forderten Henry auf, Platz für längst überfällige Neuwahlen zu machen. Bislang ist es Henry nicht gelungen, von einer Auslandsreise aus Kenia nach Haiti zurückzukehren.
Auch die Kirche sieht Haiti am Rand eines Bürgerkrieges. Die Polizeikräfte seien machtlos gegenüber den bewaffneten Banden, die sich zu einer organisierten Armee entwickelt hätten, sagte Erzbischof Max Leroy Mesidor dem internationalen Hilfswerk “Kirche in Not” (ACN). In einigen Regionen hätten sich bewaffnete Bürgerwehren gebildet, um die Banden zu bekämpfen. “Es besteht die Gefahr, dass ein Bürgerkrieg ausbricht. Es sind viele Waffen in Umlauf”, warnte der Erzbischof des Hauptstadtbistums Port-au-Prince und Vorsitzende der nationalen Bischofskonferenz.
Insbesondere in der Hauptstadt sei kein Ort wirklich sicher, so Mesidor. Die Kirche sei eines der Hauptziele der Bandengewalt und weit verbreiteter Entführungen. Diese seien zu einer Diktatur geworden, die “das haitianische Volk erstickt”. Es sei dabei egal, ob jemand arm oder reich ist: “Jeder kann entführt werden.”
Die Gewalt beeinträchtige auch die Arbeit von Priestern und Ordensleuten in Haiti stark, so der Erzbischof. Alle lebten in ständiger Angst, und einige Pfarren mussten geschlossen werden. “Ich selbst kann zwei Drittel meines Bistums nicht besuchen, weil die Straßen blockiert sind”, sagte Mesidor.
Die humanitäre Krise in Haiti hat zuletzt immer größere Ausmaße erreicht. Das Land leidet laut UN-Angaben unter einer noch nie dagewesenen Nahrungsmittelknappheit. Fast die Hälfte der Bevölkerung, etwa 4,9 Millionen Menschen, habe nicht genug zu essen, um gesund zu überleben. Haiti gilt ohnehin als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den vergangenen Jahren zudem von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert. Zuletzt kam noch eine Cholera-Welle hinzu, die Hunderte Tote forderte.
Neben der Hungersnot leidet Haiti seit Jahren unter einer schweren innenpolitischen Krise, die im Juli 2021 in der Ermordung von Staatspräsident Jovenel Moise gipfelte. Sein Tod bleibt bis dato ungeklärt, Neuwahlen sind seit Jahren ausgesetzt. Haitis innenpolitische Kräfte gelten als hoffnungslos zerstritten.