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Bundeskunsthalle zeigt Schau zur Lebensreform-Bewegung

Frei zu sein – das war der Traum vieler junger Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus dieser Sehnsucht wuchs eine Lebensreform-Bewegung, die sich bis heute auswirkt. Auch mit ihren Abgründen.

Es herrschte Aufbruchstimmung. Ein Wunsch nach Freiheit. Eine Gegenbewegung zu grauer Städte Mauern, zu Industriegesellschaft und Drill und Muff des Wilhelminischen Kaiserreichs. Nietzsche hatte Gott für tot erklärt, deshalb die Suche nach einem neuen, irdischen Paradies.

Um 1900 träumten viele Menschen von einem Leben fernab der Städte und der Zwänge des bürgerlichen Lebens. Das zeigt eine neue Ausstellung mit dem Titel “Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900” in der Bundeskunsthalle in Bonn. Bis zum 10. August geht sie in acht Kapiteln der Frage nach, wie sich die unterschiedlichen Reformbestrebungen in Kunst, Design, Architektur oder Alltagskultur niedergeschlagen haben.

Aussicht auf Heilung versprachen Sonnenlicht, frische Luft, sauberes Wasser und gesunde Ernährung. Im Zentrum stand der Wunsch nach einer Rückkehr zur Natur und einem Leben in Frieden. Gesundheit, Körperkultur und Spiritualität spielten eine bedeutende Rolle.

Kohlrabi-Apostel und Kokosnuss-Propheten warben damals für ein neues Lebensgefühl. Vergilbte Fotos zeigen Künstler wie Karl Wilhelm Diefenbach, die ihre Ideen mit einem bestimmten “Look” verbanden: Mit langen Haaren und Bart, barfuß oder mit Sandalen, in Kutte und umgehängter Tasche, begeisterte er viele junge Menschen – ein Vorläufer der Hippie- und Ökobewegung seit den 60er Jahren.

Kunstwerke, Fotos und Videoinstallationen: Die Ausstellung zeigt, dass der Traum von einer schönen, freien und gesunden Gesellschaft den Beginn des 20. Jahrhunderts mit heute eng verbindet. Nicht von ungefähr erklingt der Hit “San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)” aus den 60er Jahren in den Ausstellungsräumen.

Die Ausstellungsmacher nehmen die Besucher mit in die Reformkolonien, in denen junge Menschen und Künstler ein alternatives Leben abseits der Städte erprobten. In der berühmten Kolonie auf dem Monte Verita im Tessin verbrachten auch Hermann Hesse und Käthe Kruse prägende Zeit.

Eine neue Architektur mit hellen Innenräumen, großen Glasflächen, Balkonen und Terrassen beanspruchte Geltung – als Antwort auf die beengten, dunklen und feuchten Wohnungen um die Jahrhundertwende. Die Vorstellung, dass die alten europäischen Städte “krank” seien, findet sich in nahezu allen Gründungsdokumenten der modernen Architektur.

“Jugend” wurde zum Inbegriff für die Aufbruchsstimmung. Auf selbstorganisierten Wanderfahrten in die Natur erprobten Gruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen neue Lebensformen abseits des gewohnten Drills und der Erziehung zu Pflicht und Gehorsam. Um 1900 wurde der Name “Wandervogel” gebräuchlich. Bereits wenig später bezeichnete man diese sehr unterschiedlichen Gruppierungen als “Jugendbewegung”.

Auch in der Alltagskultur fand die Bewegung ihren Ausdruck: vegetarische Ernährung, die Ablehnung der bürgerlichen Ehe und traditioneller Geschlechterrollen, Freikörperkultur, alternative Pädagogik und die Medien, die es ermöglichten, all diese Ideen zu verbreiten.

In der Kunst, im Tanz und im Design brachte insbesondere der Jugendstil neue Impulse. Als ein Schlüsselbild dieses Stils präsentiert die Ausstellung das 1899 von Gustav Klimt geschaffene Gemälde einer Frauengestalt mit dem Titel “Nuda Veritas”. Die “Nackte Wahrheit” steht überlebensgroß vor dem Betrachter, mit einem Spiegel der Selbsterkenntnis in der Hand und eine Schlange zu ihren Füßen. Klimt bricht dabei mit den strengen Regeln der Kunstakademien und der idealisierenden Darstellung des menschlichen Körpers.

Die Ausstellung zeigt auf, wohin diese neuen Sichtweisen führten und welche Ideen heute noch im Zeitgeist erkennbar sind. Sie macht dabei auch von den dunklen Seiten nicht halt: Denn die esoterische Weltsicht und die Idealisierung des “gesunden” Körpers ließen sich auch in rassistische und völkische Ideologien überführen. Manche Strömungen der Lebensreformbewegung führten geradewegs in Antisemitismus, Rassismus und Nationalsozialismus. Andere historische Linien führten in die amerikanische Counter-Culture sowie der Flower-Power-Bewegung, die sich gegen konservative Werte, den Vietnamkrieg und die Konsumgesellschaft auflehnten.