Mit dem Versprechen für mehr Demokratie und Sozialstaat kam Evo Morales einst ins Amt. Jetzt ist es ein Machtkampf zwischen dem Ex-Präsidenten und seinem Nachfolger Luis Arce, der Bolivien in die Krise stürzt.
Rund 24 Tage lang blockierten zuletzt Anhänger des von 2006 bis 2019 regierenden Morales fast sämtliche Überlandstraßen in dem südamerikanischen Land. Die Folgen waren schwerwiegend: In der drittgrößten Stadt Cochabamba konnten Bauern ihre Ernte nicht verkaufen, die Verwaltungshauptstadt La Paz musste per Luftbrücke mit Fleisch versorgt werden.
Sowohl Morales als auch sein früherer Wirtschaftsminister, der jetzige Präsident Arce, wollen für die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) im kommenden Jahr als Präsidentschaftskandidaten antreten. Der innerparteiliche Machtkampf wird mit harten Bandagen geführt, im Parlament hat sich die MAS in zwei Fraktionen gespalten. Die Regierung ist daher nahezu handlungsunfähig.
Der Präsident der nationalen Handelskammer, Jaime Ascarrunz Eduardo, warnt, dass dieser politische Konflikt die ohnehin bestehende wirtschaftliche Krise weiter verschärft. Das hohe Staatsdefizit und fehlende Sicherheiten für Investitionen seien große Probleme. Ascarrunz wirft der Regierung vor, das Land mit ihrer Wirtschaftspolitik in die Krise geführt zu haben und nun nicht in der Lage zu sein, die Situation zu stabilisieren. „Wir als Wirtschaftsvertreter wurden lange nicht ernst genommen“, kritisiert er. „Bis vor Kurzem wollte sich die Regierung nicht einmal mit uns treffen.“
Dabei hatte der Amtsantritt von Evo Morales im Jahr 2006 ein Jahrzehnt des Aufschwungs eingeläutet. Gas- und Ölvorkommen wurden verstaatlicht, und die Einnahmen flossen in Sozialausgaben, den Ausbau der Infrastruktur und staatliche Betriebe, die wiederum die Industrialisierung des Landes vorantreiben sollten. Zwar erhielten ländliche Gemeinden dadurch erstmals größere Schulen und asphaltierte Straßen, doch blieb die angestrebte Industrialisierung weitgehend aus. Heute produziert der Staat zwar Alltagsgegenstände wie Papier oder Lebensmittel, aber sind die meisten Betriebe defizitär. Große Projekte wie der staatliche Lithiumabbau kommen nicht richtig in Gang.
„Wir sind angetreten, um den Staat zu verändern“, sagt der Basisaktivist Gonzalo Huaranca, der den Ureinwohnern der Aymara angehört und 2006 für Morales Wahlkampf betrieb. „Schlussendlich hat der Staat uns verändert.“ Das Projekt eines tiefgreifenden Wandels sei verloren gegangen. Bei der Regierungspolitik sei es zunehmend um politische Posten und Macht gegangen, erklärt der Mann aus der ärmeren Vorstadt von La Paz, El Alto.
Auch die Bemühungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen greifen nur unzureichend. Zwar sei die extreme Armut seit 2006 von etwa 50 auf 20 Prozent der Bevölkerung gesunken, doch seien nach wie vor nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleichgestellt, erklärt Zenobia Mamani von der nationalen Föderation der Hausarbeiterinnen. Hausangestellte beispielsweise verdienten weiterhin deutlich weniger als den Mindestlohn, und staatliche Stellen unternähmen zu wenig, um die Einhaltung der Arbeitsgesetze zu gewährleisten. „Unsere Genossinnen leben von der Hand in den Mund“, sagt Mamani. Wer keine Arbeit finde, stehe am Ende des Tages oft ohne Essen da.
Auch die Ombudsstelle des Landes sieht die Lage kritisch. Trotz einer Verfassung, die seit 2009 mehr Grundrechte garantiert, sei die Umsetzung vielfach schleppend oder sogar rückläufig. „Die Politik hat zu wenig unternommen“, sagt Ombudsmann Pedro Callisaya Ruz, dessen Institution für die Einhaltung der Menschenrechte zuständig ist.
Der interne Konflikt innerhalb der Regierungspartei vertiefe zudem die Vertrauenskrise in staatliche Institutionen und die Demokratie. „Die Politik sendet ein schlechtes Signal an die Bevölkerung“, kritisiert Callisaya. Wenn Demokratie als Handlungsunfähigkeit wahrgenommen werde und die realen Probleme der Menschen ungelöst blieben, könnte dies den Wunsch nach autoritären Staatsmodellen stärken, warnt er. „Wir erleben derzeit eine extrem gefährliche Situation.“