Predigttext
1 Jesus wollte den Jüngern deutlich machen, dass sie immer beten sollen, ohne darin nachzulassen. Deshalb erzählte er ihnen ein Gleichnis: 2 „In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. 3 In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ,Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‘ 4 Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ,Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. 5 Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‘“ 6 Und der Herr fuhr fort: „Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! 7 Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? 8 Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?“ (BasisBibel)
Ich bin in Berlin aufgewachsen. Täglich traf ich auf meinem Schulweg auf Wohnungslose, die in der S-Bahn nach Geld fragten. Mit der Zeit habe ich mir leider angewöhnt, wegzuschauen. Ich habe ihre Not ausgeblendet. Mittlerweile lebe ich in der Braunschweiger Innenstadt. Die Wohnungslosen, die hier leben, kenne ich vom Sehen. Sie sitzen auf den Treppenstufen zu meiner Tür. Sie schlafen in den Hauseingängen, wenn ich morgens an ihnen vorbeijogge. Von manchen weiß ich den Namen. Ich verbinde eine Geschichte mit ihnen.
Geschickt überrumpelt
Und trotzdem habe ich meine Strategien im Umgang damit, wenn mich jemand um Geld bittet. Meistens funktionieren sie. Nur letztens nicht: Ich war am Hauptbahnhof in Hannover und auf dem Weg nach Witten. Am Bahnhof wollte ich mir Frühstück bei einem Bäcker kaufen. Als ich mein Geld hervorholte, sprach er mich an: „Haben Sie vielleicht ein oder zwei Euro für mich?“
Derart überrumpelt gab ich ihm zwei Euro. Er bedankte sich überschwänglich und sagte mir: „Sie sehen heute besonders gut aus!“
Mit diesem Kompliment machte er sich wieder auf den Weg. Ich fand das fair, zwei Euro gegen ein Kompliment. Wann bekommt man ein solches Kompliment denn sonst schon von einem Fremden? Was ich auch gelernt habe: Man muss nur gerissen genug sein, um zum eigenen Recht zu kommen. Wer andere Menschen genügend nervt, kann davon profitieren. Selbst bei jemandem, der seine Strategien hat, damit umzugehen.
Die Witwe in Jesus Gleichnis weiß, was sie zu tun hat, um zu ihrem Recht zu kommen. Immer wieder geht sie zu dem Richter und bittet ihn darum – am Ende gibt er nach. Damit ist auch das erfüllt, was die Tora ihr verheißt: „Gott schafft Recht den Waisen und Witwen“ (5. Mose 10,18-19).
Es ist gut, bestimmt aufzutreten
Jesus gibt uns in dem Gleichnis zu verstehen: Es ist gut, bestimmt aufzutreten. Auch gegenüber Gott. Es ist gut, Gott immer wieder an das eigene Recht zu erinnern, immer wieder zu ihm zu beten und ihn zu bitten.
Manchmal mag das angesichts der vielen Probleme im eigenen Leben und in der Welt wie ein grenzenloses Unterfangen vorkommen. Und trotzdem sagt Jesus: „Ruft zu Gott Tag und Nacht! Gott wird euch zu eurem Recht verhelfen.“
Gerechtigkeit heißt: Beten und Teilen
Nach dem jüdischen Prinzip der Zedeka sind Menschen neben dem beständigen Beten angehalten, das zu teilen, was sie von Gott empfangen haben, um die Welt zu heilen.
Es ist eine religiöse Pflicht und eine gelebte soziale Praxis im Judentum, füreinander einzutreten und sich zu helfen. Das gilt für die eigene Familie, aber auch für die Waisen und Witwen, für die Wohnungslosen.
Für den vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, für den Friedenssonntag, möchte ich daher noch ergänzen: Bleibt nicht beim Beten stehen, sondern handelt auch.