Während der Essensausgabe an der Berliner Bahnhofsmission am Zoo kam es am 5. August zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Mitarbeitende mussten die Polizei rufen. Es war bereits der dritte Einsatz dieser Art innerhalb von zwei Monaten. Dieter Puhl, der Leiter der Einrichtung, fordert deshalb erneut eine bessere krisenpsychologische Betreuung für Obdachlose in der Bundeshauptstadt. Einige Wohnungslose seien psychisch krank, hätten aber keine Chance auf eine Betreuung oder Behandlung.
Von Dieter Puhl
Sie ist 27 Jahre jung, zierlich, in sich gekehrt und ich mag sie. Manche Nacht hat sie gegen ihren Willen Sex mit mehreren Männern. An den Tagen danach ist sie stiller und mir ist nicht klar, ob ihre Seele daran zerbrach oder schon vorher einen Sprung hatte. Selten ballert Lebenshärte aus ihr heraus. Flaschen oder andere Gegenstände sollten dann nicht in ihrer Nähe sein. Ein Opfer kann zur Täterin werden.In so eine Lage können wir in der Bahnhofsmission Berlin Zoologischer Garten unvorbereitet geraten. Wir wissen um die Verzweiflung der Frau, die Gefahr ist für uns geringer. Schnell sollten wir dann aber dennoch sein. Wir rufen in so einem menschlichen Durcheinander den Sozialpsychiatrischen Dienst. Das sind Dienststellen der bezirklichen Gesundheitsämter für psychisch kranke Menschen, in Zusammenarbeit mit dem Berliner Krisendienst. Er kommt und wird tätig. Das bindet drei Kollegen aus der Bahnhofsmission für zwei bis vier Stunden. Personal, das in dieser Stärke im Regelfall gar nicht da ist. Die Bahnhofsmission ist mit 200000 Euro jährlich unterfinanziert. Bei vielen Menschen fehlt uns schlicht die Fachlichkeit, wir sind ein sogenanntes niedrigschwelliges Angebot, auch mit entsprechendem Personal. Nach der Einweisung der akutgefährdeten Patientin in eine psychiatrische Klinik sind wir froh, atmen durch. Wir sind nicht mehr gefährdet, andere auch nicht. Naiv hoffen wir auf Heilung, vertrauen psychiatrischen Systemen. Verwundert und enttäuscht sind wir aber, wenn die junge Frau zwei Tage später wieder vor der Tür steht. Auch wenn wir wissen: gegen den eigenen Willen kann sie nicht in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Okay, geheilt ist sie nicht, hören wir, aber es soll keine Gefahr mehr von ihr ausgehen. Diese Lücke, die sich nun auftut, gilt es zukünftig zu schließen. Wer schaut nach ihr, mit den entsprechenden Kompetenzen, wer kümmert sich, wer kontrolliert, ob sie ihre Medizin einnimmt? Wer schützt sie, wer uns und andere? Nach dem Polizeieinsatz mit etwa 25 Kräften am 5. August wurde für eine Nacht die Bahnhofsmission Berlin Zoologischer Garten geschlossen. Ab 21.15 Uhr flogen vor unserer Tür die Fäuste und Flaschen, Messer wurden gezückt, es brodelte wohl etwas Wahnsinn, kombiniert mit etlichen Promille. Leider bei vielen. Die Polizei kam sofort. Wie so oft. Berechtigt auch mit 25 Kollegen. Danke! Es war innerhalb von zwei Monaten der dritte Einsatz dieser Größenordnung. Kolleginnen und Kollegen wurden bedroht. Ich arbeite seit neun Jahren hier und tat das verdammt ungern: An diesem Abend beendete ich um 23 Uhr die Essensausgabe, die sonst bis Mitternacht geht. Das trifft Unschuldige. Und es ist keinesfalls überzogen, dass wir beschlossen, für eine Woche das Essen durch unser Fenster auf die Straße auszugeben. Ein trauriger Prozess, auch für viele Ehrenamtliche – denn sie wollen doch helfen. Einige Menschen, eine kleine Minderheit, sind gefährlich. Übrigens nicht nur vor unserer Tür. Hilfen haben aber natürlich auch sie verdient. Unzählige Male haben wir es schon angemahnt: Die Klientenzahlen steigen kontinuierlich. Psychische Erkrankungen nehmen zu, die Menschen werden immer hilfloser. Die Hilfsangebote stagnieren überwiegend. In den Bezirken und beim Senat sagen viele: Es müssen weitere Versorgungsangebote für obdachlose Menschen im Innenstadtbereich geschaffen werden. Konzentrationen sind zu vermeiden. Und sie sagen es zum Teil schon recht lange. Getan hat sich wenig, zu wenig. Die Übergriffe nehmen zu. Sie sind als Ausdruck von Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit zu werten. Es fehlt eine solide psychiatrische Grundversorgung von zum Teil schwer erkrankten Menschen: Beratungen, Nachsorge, Kontrolle. „Wo sind die Fachärzte?“, fragen wir seit Jahren. Psychologische Hilfen werden wir am Zoo durch den Berliner Senat zukünftig erhalten. Die jetzt zugesagten Hilfen für eine sozialpsychologische Beratungsstelle der Stadtmission begrüßen wir sehr. Psychiatrische Hilfe erhalten wir aber nicht. Hier gibt es Unterschiede. Psychologen beraten, begleiten – und das ist auch gut so und nötig. Aber Fachkräfte des Sozialpsychiatrischen Dienstes hätten auch die Möglichkeit, die Notbremse einer einweisung zu ziehen: bei Fremd- oder Eigengefährdung, bei einem Höchstmaß an Verwirrtheit. Da helfen gute Gespräche und Beratungen nicht mehr. Haushaltstechnisch scheint die Messe gelesen, die Budgets stehen bereits. Doch das reicht bei weitem nicht. Obdachlose Menschen leiden weiter vor sich hin, der Rest der Stadt aber langsam auch.Dieter Puhl leitet die Berliner Bahnhofsmission im Bahnhof Zoo.