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Auf Heimatsuche

Andacht über den Predigttext zum 21. Sonntag nach Trinitatis: Jeremia 29, 1.4-7.10-14

Anette Flentge

Predigttext
1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte (…) 4 So spricht der Herr Zebaoth, der Gott  Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn‘s ihr wohlgeht, so geht‘s euch auch wohl (…) 10 Denn so spricht der Herr: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Im 6. Jahrhundert vor Christus hatte die Weltmacht Babylon Jerusalem erobert. Die Oberschicht der Israeliten, die Königsfamilie, die Adeligen, die Händler und Handwerker wurden nach Babylon deportiert. An diese Menschen, die sich in der Fremde befinden, schreibt der Prophet Jeremia. Und er schreibt von „Heimat“. Von der Heimat in der Fremde.
Es ist widersprüchlich, was wir hier lesen: „Werdet heimisch in Babylon, baut Häuser, gründet Familien, müht euch, betet sogar dafür, dass es der Stadt gut geht. Und – wisst, dass all‘ das nur vorläufig ist, denn nach 70 Jahren werdet ihr wieder nach Jerusalem zurückkehren.“
Wie ist in dieser Zwiespältigkeit der Begriff „Heimat“ zu füllen? Ich bin erinnert an die Geschichte meiner eigenen Familie, die zum Ende des Krieges aus der niederschlesischen Oberlausitz fliehen musste. Ich sehe vor mir manch alte Frau in meiner Gemeinde, die mit Tränen in den Augen von „ihrer Heimat“ in Ostpreußen und Pommern, in Schlesien und Masuren erzählt – und die doch hier schon lange, lange Jahre mitgeholfen hat, dass ihre Familie ein neues Zuhause fand.
Wir brauchen bei der Frage nach der Bedeutung von „Heimat“ gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen. Seit Neuerem haben wir in Deutschland ein „Bundesministerium für Heimat“. Heimat wird hoch gehandelt. Wie stehen die dazu, die ihre Heimat in Syrien, Afghanistan, im Irak oder anderswo hinter sich lassen mussten?
Die Bibel weiß eine Menge von der Heimat in der Fremde zu erzählen: Schon Abraham verlässt seine angestammte Heimat, um eine von Gott verheißene, neue Heimat in Kanaan zu entdecken. Biblisch gesehen ist Heimat nicht Herkunfts-, sondern Zukunftsland. Nicht das Land, wo man immer schon war, sondern das Land, in das man kommt, kommen wird.
Jeremia beantwortet mit seinem Brief die unausgesprochene Frage: Wie ist denn, hier und jetzt, an dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, zu leben? In einer zukünftigen Heimat kann ich jetzt, zu dieser Zeit, nicht wohnen, nicht lieben, keine Träume verwirklichen. Jede noch so schöne Hoffnung wirft mich erst mal wieder auf die Gegenwart zurück: Sich in der gefühlten Fremde einrichten. Sich der Aufgabe stellen, das Heute, die Gegenwart zu gestalten. Sich nicht verlieren in Träumerei oder Depression. Verheißung wird hier und jetzt greifbar und bleibt doch auch Verheißung.
Die zweifache Botschaft des Propheten lautet: Macht euch die Fremde zur Heimat, aber hört nicht auf, Fremde zu sein. Bleibt und seid doch zum Aufbruch bereit. Lebt im Jetzt und vergesst doch nicht, was noch kommen wird. Jeremia ermutigt zu diesem Vertrauen ins Jetzt wie auch in die Zukunft, weil er weiß, dass das Jetzt und die Zukunft Gottes ist.
„Heimat“ bekommt so eine neue Füllung: Sie ist nicht bestimmt durch eine geographische Lage, durch Menschen oder Traditionen, sondern durch eine kaum vorstellbare Gottesnähe: Gott wird die erhören, die nach ihm fragen. „Ihr werdet mich suchen – und ich werde mich von euch finden lassen.“ Das gab den Israeliten und das gibt auch uns „Zukunft und Hoffnung“.
Das Exil wird für die Israeliten zum Vor-schein der Heimat, bei Gott zu Hause zu sein. In der Fremde der Welt unsere Heimat finden, weil Gott uns mit seiner Nähe dazu befähigt. Heimat haben bei Gott  – wo auch immer wir sind, weil er unsere Zukunft und Hoffnung ist.