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Auf geht‘s!

Über den Predigttext für den 5. Sonntag nach Trinitatis: 1. Mose12,1-4

Predigttext
1 Der Herr sagte zu Abram: „Verlass dein Land, deine Verwandtschaft und das Haus deines Vaters! Geh in das Land, das ich dir zeigen werde! 2 Ich will dich zum Stammvater eines großen Volkes machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen, sodass du ein Segen sein wirst. 3 Ich werde die segnen, die dich segnen. Wer dir aber Böses wünscht, den werde ich verfluchen .Alle Völker der Erde sollen durch dich gesegnet werden.“ 4 Da ging Abram los, wie der Herr es ihm befohlen hatte. Lot ging mit ihm. Abram war 75 Jahre alt, als er Haran verließ. (BasisBibel)

Geh, Abraham, geh, mach dich auf den Weg… Auf unserer Wunschhitliste steht er ganz oben und ich stimme begeistert mit ein in diesen Kindergottesdienst-Schlager mit der eingängigen Melodie. Ohne Fragen, ohne Zweifel, den Klang von Aufbruch und Abenteuer in meinen Ohren. Die Verheißung immer schon als erfüllt mitgedacht: Geh, Abraham, geh, Gott zeigt dir neues Land.

 Heute, über 45 Jahre später, bleibt mir das Singen im Halse stecken. Ich sehe viel zu kleine Boote auf viel zu großem Meer. Fatim, 19. Jahre. Sie war Torhüterin der Nationalmannschaft. Sie träumte, für einen berühmten Fußballverein in Europa zu spielen. Sie ertrank im Mittelmeer. United4Rescue gibt den Menschen ein Gesicht, erinnert ihre Geschichte.

Frauen mit Koffern, Kinder mit Stofftieren an der ukrainisch-polnischen Grenze. 100 Millionen Menschen auf der Flucht, weltweit.
Aufbruch. Umbruch. Abbruch.

Brüche sind schmerzhaft

Heute, über 45 Jahre später, ist mir klar, dass ein Aufbruch immer auch ein Bruch ist – und bleibt. Brüche sind schmerzhaft. Da wird eine Verbindung abgebrochen. Geht es nicht mehr so weiter wie bisher.

Keine Kontinuität. Eine Lücke entsteht. Eine Leere. Brüche haben mitunter scharfe Kanten, an denen ich mich immer wieder verletzen kann. Mir die Seele wundreibe.
Solche Brüche durchziehen das Leben. Das hört selbst im Alter nicht auf, im Gegenteil.

„Abram war 75 Jahre alt, als er Haran verließ.“

Wenn ich meine Wohnung verlassen muss. Mir mein zu groß gewordenes Leben wie ein alter Mantel um die Knochen schlottert. Ich mich verabschieden muss von meinen Fähigkeiten, von dem, was mich ausgemacht hat. Wenn ich mir selbst fremd werde.

Aufbrüche lassen mich die großen Fragen des Lebens neu stellen. Die Fragen werden gestottert oder gebrüllt, von außen oder von innen, aber sie kommen. Alte Strukturen und vorgefertigte Antworten zerschlagen.

Aufbruch. Umbruch. Abbruch.

Die Technik kennt „Sollbruchstellen“. Das sind Stellen, an denen das Material bei Überlastung vorhersehbar bricht, um größeren Schaden zu verhindern. Ich frage mich, gibt es die vielleicht auch im Leben, solche „Sollbruchstellen“?

Wenn ich diese Stimme höre in mir drin und eine eigenartige Unruhe mich ergreift. Eine Stimme, die mich herausruft aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in dem nichts Neues zu erwarten ist.

Nicht so weitermachen wie bisher. Verbindungen kappen, die mir nicht gut tun. Verbindungen, die mir die Freiheit nehmen, mich kleinhalten, mein ICH ersticken. Die zäh und klebrig mit langen Fingern nach meiner Seele fassen.

Dann sind es die Aufbrüche, nach denen ich mich sehne. Und ich spüre ganz genau: Jetzt, jetzt ist es Zeit!

Eine Zäsur für die Kirche

Auch in unserer, auch in meiner Kirche. Jahrhunderte lang war es in Deutschland normal, einer der großen Kirchen anzugehören. Jetzt ist der Anteil der Kirchenmitglieder auf unter 50 Prozent gesunken. Forscher sprechen von einer Zäsur.
Und ich erschrecke. Und denke, wir können doch nicht einfach so weitermachen. Das können wir doch nicht ignorieren. Und ich frage mich: Wofür stehen wir eigentlich? Was macht uns aus? Was haben wir zu sagen zu den großen Fragen und Themen der Menschen? Haben wir etwas zu sagen?

Sollbruchstellen im Leben. Nicht weniger schmerzhaft. Aber notwendig, um größeren Schaden zu verhindern.

Leonard Cohen kommt mir in den Sinn: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.” Es gibt einen Riss in allem. So kommt das Licht herein.

Gott selbst hat sich den Brüchen ausgesetzt. Den Aufbrüchen, Abbrüchen, Umbrüchen, Durchbrüchen. Den Lücken und Leeren und Sollbruchstellen. Immer schon. Und er lässt seine Menschen darin nicht allein. Verheißt seinen Segen.

So bin auch ich hineingestellt in die Weite eines Versprechens. Beseelt und bestärkt mit dem Atem Gottes, der sich wie Tau auf Gräser legt.

Aufbruch. Aufbrechen. Auf. Brechen. Etwas bricht. Etwas öffnet sich.
Das ist der Beginn. Etwas wird anders, neu. Auf, mach dich auf! Darauf will ich vertrauen.