Hamburg. Ein Schmiedemeister behandelte seine Angestellten schlecht. Eines Tages reichte es einem von ihnen, und er schlug den Mann mit dem Hammer auf den Kopf. Der Meister starb. Aber nicht an dem Schlag, sondern an der Behandlung der Ärzte, die dem Mann mit einem unsterilen Bohrer den Kopf aufgebohrt hatten. So steht es in den Gerichtsakten von 1825. „Das war hochinteressant“, sagt Marlen Klotz, die die Akten Zeile für Zeile entziffert hat. Die Geschichte um den Schmiedemeister ist nur eine von vielen, die sie erzählen kann, denn in der Sütterlinstube der Friedenskirche in Eilbek machen Ehrenamtliche Schriftstücke aus der Sütterlin- und der Kurrentschrift wieder zugänglich.
Die Arbeit begann vor 14 Jahren durch einen Zufall. Marlen Klotz war auf dem Flohmarkt im Gemeindehaus, als zwei Studenten fragten, ob ihnen jemand einen Vierzeiler in Sütterlin aufschreiben könne. „Das ist ja schnell gemacht“, sagte sie. Die Schrift hatte sie noch in der Schule gelernt. Pressesprecherin Renate Endrulat war beeindruckt und schlug ihr vor, eine Sütterlinstube zu gründen, in der die alte Schrift in eine lesbare Form übertragen wird.
Der erste Computer mit 85 Jahren
Am Anfang beteiligten sich sie rund 20 Ehrenamtliche, aber Alter und Krankheit haben die Gruppe schrumpfen lassen. Heute sind sie nur noch zu fünft. Leiterin Marlen Klotz ist mit 80 Jahren fast die Jüngste. Der Elan ist jedoch nach wie vor groß. Hannelore Eilers etwa hat sich mit 85 Jahren ihren ersten Computer gekauft, um Texte abtippen zu können. Inzwischen ist sie 90.
„Wir haben Millionen Wörter übertragen“, sagt Marlen Klotz. Feldpostbriefe, Stammbäume, Geschäftsunterlagen, Tagebücher, Reisebeschreibungen und Briefe waren darunter, aber auch offizielle Unterlagen. Renate Ehmke erinnert sich noch an die Übertragung einer Erbangelegenheit, die den dänischen König Christian VII betraf. Auch für das Auswärtige Amt und die Hamburger Kunsthalle haben sie Texte übertragen. Die Frauen arbeiten meist zu Hause, montags treffen sie sich und entziffern schwierige Wörter gemeinsam. Wenn sie etwas nicht lesen können, liegt es meistens an der Handschrift.
Auf den interessantesten Auftrag können sie sich gar nicht festlegen, aber „sehr interessant, bedrückend und traurig“ sei vieles gewesen, sagt Renate Ehmke. Die Postkarte aus dem Krieg zum Beispiel, auf der eine Mutter ihren Sohn an der Front fragte, ob er auch saubere Wäsche habe. Oder die Berichte eines jungen Konditorgesellen, der Anfang des 18. Jahrhunderts durch Deutschland reiste und an einem Tag 40 Kilometer zu Fuß lief. „Manche Orte, die er besucht hat, gibt es gar mehr“, sagt Renate Ehmke.