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Argentinien zwischen Aufbruch und Armut

Steigende Armut, sinkende Umfragewerte: Für den marktradikalen argentinischen Präsidenten Javier Milei beginnt die entscheidende Phase seiner Amtszeit. Die katholische Kirche scheint sich klar positioniert zu haben.

Für ihren Überraschungsbesuch hat sich Cristina Kirchner eine ganz besondere Begleitung ausgesucht. Die Linkspolitikerin, die die Geschicke Argentiniens von 2007 bis 2015 als Präsidentin und von 2019 bis 2023 als Vizepräsidentin steuerte, vertraute auf die Ortskenntnis von Nicolas Angelotti. Der katholische Geistliche ist besser bekannt als “Padre Tano” und gehört zu jenen Armenpriestern, zu denen Papst Franziskus eine besonders enge Beziehung haben soll.

Kirchner war im Fahrzeug des Priesters unterwegs, auf dem Beifahrersitz. Gemeinsam besuchten sie die Gemeinde San Justo in La Matanza, einem der bevölkerungsreichsten Viertel im Ballungsraum Buenos Aires. Die medienwirksame Visite war nicht ohne politische Brisanz. Unlängst hatte der Papst persönlich die soziale Lage in seinem Heimatland indirekt kritisiert. Er sprach davon, dass lieber in “Pfefferspray statt in Sozialausgaben” investiert werde.

Die Äußerungen des Kirchenoberhaupts lösten im libertär-konservativen Regierungslager Enttäuschung und Wut aus. Sie werden als Schulterschluss mit den Linkspopulisten empfunden. Kirchner und Co. nutzen derweil die Vorlage aus dem Vatikan, um den marktliberalen Regierungskurs zu kritisieren.

Eine Auswirkung der seit Jahren anhaltenden Krise in Argentinien ist die wachsende Macht des Drogenhandels. Die organisierte Kriminalität wurde zwar schon vor Amtsübernahme von Präsident Javier Milei immer stärker, doch nun hat die Opposition darin ein neues Thema gefunden. “Ich kannte Pater Tano nicht besonders gut”, sagte Kirchner bei ihrem Ortstermin. “Aber er hat mir von den Maßnahmen erzählt, die in dem Viertel ergriffen wurden, um zu verhindern, dass der Drogenhandel weiter zunimmt.” Schuld am Vordringen der Banden sei der Rückzug des Staates. Für Milei ist diese Argumentation gefährlich, denn er steht für möglichst wenig Staat.

Kirchner, eigentlich wegen Korruption zu sechs Jahren Haft verurteilt, sucht wieder das Bad in der Menge. Ein knappes Jahr nach der krachenden Wahlniederlage der Peronisten zeigte sich auch der unterlegene Präsidentschaftskandidat Sergio Massa, Ex-Wirtschafts- und Finanzminister, jüngst wieder auf der Straße. Hunderttausende demonstrierten gegen die Sparpolitik im Bildungswesen. Zuvor gab es bereits Proteste gegen ein Veto Mileis zu einer Rentenerhöhung.

Ziel der Kritik des Papstes und der wieder erstarkten linkspopulistischen Peronisten: die libertäre Schocktherapie des Präsidenten. Milei hatte zwar ein schweres erstes Jahr angekündigt. Aber jetzt, da die Konsequenzen überall zu spüren sind, die Armut mit 54 Prozent laut der Katholischen Universität auf den höchsten Stand seit 20 Jahren gestiegen ist, und Massenentlassungen eine Rezession ausgelöst haben, sinkt das Vertrauen in den harten Reformkurs deutlich. Erstmals sind Mileis Umfragewerte stärker zurückgegangen. Er braucht nach dem Sparkurs mit der Motorsäge – Symbol seines Wahlkampfes – jetzt dringend maßgebliche wirtschaftliche Erfolge.

Dass es die geben kann, da sind sich die Ökonomen sicher. Das US-Kreditinstitut JPMorgan beziffert das Wachstum im dritten Quartal auf vier Prozent, die Inflation ist von monatlich anfangs 25 Prozent auf vier Prozent zurückgegangen. Der Staat schreibt erstmals wieder schwarze Zahlen, die Energiehandelsbilanz wirft nach Jahren eines Zuschussgeschäftes einen Milliardenüberschuss ab, wie Fachportale berichten. Doch beim Volk kommt davon bislang kaum etwas an. In der Provinz Buenos Aires, die Cristina Kirchner an der Seite des katholischen Geistlichen besuchte, sind die Kühlschränke schon zur Monatsmitte leer. Die Menschen sind an ihrer Belastungsgrenze angelangt.

Für Milei beginnt nun die entscheidende Phase seiner Präsidentschaft. In einem Jahr stehen die Wahlen für den Senat und den Kongress an. Dann werden die Mehrheitsverhältnisse neu sortiert. Gelingt in den kommenden zwölf Monaten kein spürbares Wirtschaftswachstum, könnte das radikal-marktliberale Experiment bald wieder zu Ende gehen.