Sandra Günther verteidigt Frauen und Männer, die Gewalt in einer Partnerschaft erfahren. Psychische Gewalt könne dabei genauso weh tun wie körperliche, sagt die Rechtsanwältin aus Dortmund.
Gewalt beginnt meist schleichend, sagt Sandra Günther, Rechtsanwältin aus Dortmund. Zunächst werde geschubst, geschrien, dann komme die erste Ohrfeige. “Damit ist eine Grenze überschritten, und die Hemmschwelle für die nächste Tat sinkt”, sagt Günther. Die 48-Jährige ist spezialisiert auf Familienrecht und verteidigt regelmäßig Menschen, die Gewalt in einer Partnerschaft erfahren. 90 Prozent ihrer Klienten sind Frauen, aber auch Männer seien betroffen. Unterschätzt werde zudem, wie belastend psychische Gewalt für die Opfer sei, etwa Beleidigungen und Demütigungen.
“Sie ist teilweise noch schlimmer als körperliche Gewalt, weil sie eben nicht sichtbar ist”, erklärt Günther, die sich 2007 mit einer eigenen Kanzlei selbstständig gemacht hat. Betroffenen werde häufig nicht geglaubt, welch massiven verbalen Attacken sie durch ihren Partner ausgesetzt seien. “Die Täter haben Charisma, sie sind manipulativ. Deswegen glaubt man den Frauen oft nicht”, berichtet Günther.
Auch ständiges Anschreien oder “Gaslighting” sind ihr zufolge Beispiele für psychische Gewalt. Unter Gaslighting versteht man einen emotionalen Missbrauch durch Manipulation. Opfer werden von ihrem Partner durch verzerrte Darstellungen und Lügen so verunsichert, dass sie am eigenen Verstand zweifeln und ihr Selbstwertgefühl leidet.
Günther zufolge ist weder körperliche noch psychische Gewalt eine Frage des Milieus: “Sie zieht sich durch sämtliche Schichten”, sagt die Anwältin, die als solche auch in einer Scripted-Reality-Serie des TV-Senders RTL zu sehen ist. “Häusliche Gewalt findet auch in Familien statt, bei denen man meinen müsse, dort ist der Intellekt vorhanden, um es zu verstehen.”
Schläge und Beleidigungen kämen dennoch häufiger in sogenannten sozial schwachen Familien und Beziehungen vor, wo zum Beispiel Geldprobleme, Arbeitslosigkeit oder eine Sucht vorhanden seien. Nach Angaben des bundesweiten Hilfetelefons “Gewalt gegen Frauen” erlebt ein Viertel aller Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft.
Günther beobachtet zudem ein Machtgefälle in Beziehungen: Es sei in der Regel weiterhin die Frau, die nicht arbeiten gehe und sich stattdessen um Kinder, Haushalt und Haustiere kümmere. “Der Mann verdient das Geld, kommt abends nach Hause und möchte Geschlechtsverkehr. Seine Frau ist dafür zu müde und entzieht sich, der Mann ist frustriert – das ist ein klassisches, wiederkehrendes Muster”, beschreibt die Expertin den möglichen Beginn einer Gewaltspirale. Die Täter verfügten darüber hinaus meist über eine geringe Frustrationstoleranz und eine gestörte Impulskontrolle.
Ihrer Erfahrung nach dauere Misshandlung oft jahrelang an. “Erst eine besonders massive Verletzung oder die Tatsache, dass der gewalttätige Partner fremdgeht, sind ein Anlass zu sagen: Das Maß ist voll”, berichtet Günther. Ihre Klientinnen sind zwischen 32 und 78 Jahre alt; ihre derzeit älteste Klientin will ihren Partner wegen sexueller Nötigung verlassen. Immer und immer wieder habe er sie dazu genötigt, mit ihm Pornos zu drehen. Weil sie sich inzwischen weigere, wende er nun körperliche Gewalt an.
“Viele sind im Nachhinein froh, dass sie zu mir gekommen sind. Manche kehren aber auch irgendwann zu ihrem Partner zurück”, berichtet Günther. Denen, die zu ihr kommen, will die Anwältin Hoffnung geben. “Sie sitzen meistens vor mir wie ein Häufchen Elend. Ich sage ihnen, dass sie in sechs oder sieben Monaten schon ein ganz anderes Gefühl haben werden.” Sie zeige ihnen Wege aus der Misere, etwa, ein eigenes Konto zu eröffnen oder einen Antrag auf Wohnungszuweisung zu stellen, um nicht länger mit dem gewalttätigen Partner zusammen leben zu müssen.
Günther wünscht sich, dass Familiengerichte Fälle psychischer Gewalt nicht einfach “wegwischen” – auch wenn die Beweislage schwierig sei. “Ich höre oft den Satz: Wir wollen jetzt nach vorne schauen”, berichtet die Anwältin aus ihrer Praxis. Die Opfer fühlten sich dadurch nicht ernst genommen. “Grundsätzlich muss die Justiz mit mehr Personal ausgestattet werden, damit Gerichte schneller agieren können”, fordert Günther.