„Pharisäer“, „mauscheln“, schachern“: Das sind nicht einfach nur Worte. Sie zeichnen ein negatives Bild des Jüdischen. Milena Hasselmann vom Berliner Institut Kirche und Judentum spricht im Interview darüber, warum sich in Theologie und Kirche diese Bilder bis heute halten und wie wichtig eine Aufarbeitung ist. Vor dem Hintergrund des terroristischen Überfalls der Hamas auf Israel betont sie auch die Bedeutung von solidarischem Handeln.
Frau Hasselmann, Sie beschäftigen sich aus christlicher Sicht mit jüdischem Leben – und mit Antisemitismus. Findet er sich auch in Reaktionen auf die jüngsten Terroranschläge der Hamas auf Israel?
Ja. Das ist erschreckend. Die Jubelfeiern in Berlin und anderen Städten durch Vereine wie Samidoun, die die Terrorangriffe als Widerstand und Freiheitskampf bejubeln, sind dabei nur ein sehr offensichtlicher, aber erschütternder Punkt. Auch die als Kontextualisierung verklausulierte Rede, dass Israel an dem, was am 7. Oktober und seitdem geschehen ist, einen Eigenanteil trage, betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr.
Ist in einer solchen Situation differenzierte Auseinandersetzung mit israelischer Siedlungspolitik überhaupt möglich?
Fragen nach Israels Innen- und Siedlungspolitik bleiben wichtig. Jetzt aber geht es in Israel erst mal ums Überleben und ums Trauern – und im Ausland darum, beides an Israels Seite zu unterstützen. Das Institut für Kirche und Judentum hatte eine „jüdisch-christliche Sommeruniversität“ vom 8. bis 11. Oktober in Kooperation mit der Hebräischen Universität in Jerusalem geplant. Für uns war schnell klar, dass wir die Sommeruniversität nicht durchführen werden. In Rücksprache mit unseren Partnerinnen und Partnern in Israel haben wir sie abgesagt. Wir sind der Überzeugung, dass unsere enge Partnerschaft es ausschließt, in Berlin einfach ohne Rücksicht im akademischen Tagesgeschäft fortzufahren. Wir können nicht unberührt weitermachen, wenn im Land der Partnerinnen und Partnern Krieg herrscht. Trotzdem sind wir aber am Eröffnungsabend zusammengekommen und haben auch alle Interessierten eingeladen, um ein Zeichen der Solidarität auszudrücken.
Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, haben Deutsche massenhaft ihre Solidarität bekundet. Auch von Kirchen flatterten blau-gelbe Fahnen. Gegenüber Israel scheint Solidarität eher verhalten zu sein. Warum?
Ich denke nicht, dass sich diese beiden Kriege gegeneinander ausspielen lassen. Auch lässt sich das Maß und vor allem die Ernsthaftigkeit dessen, was Solidarität heißt, nicht in der Anzahl an Flaggen messen. Aber Ihre Beobachtung teile ich.
Sollten mehr Israel-Flaggen vor Kirchen hängen?
Symbolische Solidarität ist wichtig, gerade in diesen ersten Tagen, die israelische Flagge ist da ein starkes Zeichen. Entscheidend werden aber die nächsten Wochen sein. Solidarität wird sich maßgeblich auch darin zeigen, ob Deutschland Israels Kampf ums Überleben und damit auch das Recht des Landes auf Selbstverteidigung anerkennt.
Welche antisemitischen Stereotype sind auch in der evangelischen Kirche weiterhin verbreitet?
Unzählige! Christentum und christliche Theologie blicken auf eine Haltung der Abwertung gegenüber dem Judentum und jüdischen Traditionen zurück, die sich nur langsam verändert. Lange herrschte die Auffassung, das Christentum habe das Judentum abgelöst, da dieses ihm gegenüber defizitär und unterlegen sei. Daraus ergaben sich Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl von Stereotypen, Vorurteilen und Falschaussagen in unserer Sprache, in unserer Theologie und Liturgie.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie die Unterscheidung in einen „liebenden“ und einen „strafenden“ Gott. Sie verzerrt das alttestamentlich-jüdische Gottesbild und entzieht dem christlichen einen großen Teil seiner Grundlage. Das Alte Testament ist genauso Bibel wie das Neue Testament, beide erzählen vom selben Gott. In der Liturgie könnten wir diese jahrhundertelange Fehlinterpretation richtigstellen, indem wir bei allen biblischen Lesungen aufstehen, nicht nur beim neutestamentlichen Evangelium.
Aber sind nicht die Geschichten des Alten Testaments tatsächlich gewaltvoller? Man denke nur an „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.
Diese Formulierung stellt in besonders verzerrender Weise das Judentum als strenge, archaische Gesetzesreligion dar und wird zudem oft der vermeintlich christlichen Liebesethik gegenübergestellt, dies geschieht leider oft auch in eigentlich gut informierten Medien. Tatsächlich ist es jedoch gerade keine Racheformel, sondern eine schadensbegrenzende Rechtsformel. Ähnlich verzerrt, ja karikiert, verwenden wir den Begriff „Pharisäer“. Die Pharisäer waren die größte religiöse Gruppe zur Zeit Jesu, sie waren volksnah und ernsthaft auf der Suche nach dem Willen Gottes. Im Neuen Testament werden sie dargestellt als Heuchler, als übertrieben Religiöse, diese verzerrte Färbung hat sich in unserem Sprachgebrauch erhalten.
Man sollte also im Café keinen „Pharisäer“ bestellen?
Zumindest transportiert diese Bezeichnung ein falsches Pharisäerbild, das zudem oft mit Jüdinnen und Juden gleichgesetzt wird. Weil der Kaffee sozusagen harmlos tut, aber doch eigentlich Alkohol enthält. Auch Worte wie „mauscheln“ und „schachern“ zeigen, so wie wir sie verwenden, ein negatives Bild vom Judentum, obwohl sie im Jiddischen nur beschreibend, nicht wertend sind.
Nach 1945 hat die protestantische Kirche jahrzehntelang sowohl den Antisemitismus in den eigenen Reihen verdrängt als auch ihr Mittun am Holocaust wenig hinterfragt. Ist das mit ein Grund für das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments in Deutschland?
Die wenigsten Menschen wollen antisemitisch sein. Antisemitische Bilder sind aber so tief in uns verwurzelt, dass wir aktiv werden von selbst verschwinden sie nicht. Ein entscheidender Schritt ist, sich das eigene Verhaftetsein in antisemitischen, antijudaistischen Traditionen einzugestehen. Das fällt schwer, ist unangenehm und schmerzhaft. Aber es ist dringend notwendig, denn Antisemitismus ist immer noch, mehr oder weniger subtil, salonfähig – in und außerhalb von Kirche.
Wie kann die Kirche ihr doppeltes Versagen wiedergutmachen?
Wiedergutmachung ist nicht der passende Begriff. Die Kirche hat einen Weg zögerlich angetreten, den sie viel früher hätte gehen müssen. Er beginnt mit der kritischen Sichtung aller unserer Traditionen. Daraus ergeben sich viele Neuerungen, die bisweilen unbequem sein mögen, die aber auch ein großes Potenzial christlicher Identität heben können.
Katharina Körting ist freie Journalistin und Autorin. 2021 erschien von ihr der Essay “Liquidierung der Vergangenheit. Wie sich die evangelische Kirche auf den Grundlagen ihres Vesagens restaurierte”