Nach einem mutmaßlich geplanten Anschlag auf die Synagoge in Hagen Mitte September äußerten viele Vertreterinnen und Vertreter von Kirchen, Politik und Gesellschaft ihr Entsetzen und ihre Anteilnahme. UK-Herausgeber Bernd Becker hat mit Sylvia Löhrmann über das Thema Antisemitismus in Deutschland gesprochen. Löhrmann, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und von 2010 bis 2017 Schulministerin in NRW, ist Generalsekretärin des Vereins „321: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
Nach dem Angriff eines Rechtsextremisten auf die Synagoge in Halle 2019 war Deutschland alarmiert. In diesem Jahr gab es nun erneut Angriffe und Drohungen gegen Synagogen. Wie bedroht sind jüdische Menschen in Deutschland?
Sylvia Löhrmann: Der geplante Anschlag auf die Synagoge in Hagen steht leider in einer ganzen Reihe von antisemitisch motivierten Straftaten in der letzten Zeit. Erst Anfang des Jahres wurde in Hamburg ein jüdischer Student vor der Synagoge überfallen. Und vor fast genau zwei Jahren hat ein schwer bewaffneter Rechtsextremist versucht, die zu Jom Kippur voll besetzte Synagoge in Halle an der Saale zu stürmen, wollte erklärtermaßen „möglichst viele Juden töten“! – und hat danach willkürlich zwei Menschen erschossen.
In den letzten drei Jahrzehnten gab es immer wieder Bombenanschläge gegen jüdische Gemeindehäuser und Synagogen. Und in der ersten Hälfte dieses Jahres wurden allein in Nordrhein-Westfalen (NRW) bereits 206 antisemitische Straftaten aktenkundig. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 waren es insgesamt 276.
All das zeigt leider, wie sehr unsere Gesellschaft davon entfernt ist, jüdisches Leben als selbstverständlichen, konstitutiven Teil Deutschlands zu begreifen. Ich möchte aber, dass Deutschland Heimat für Jüdinnen und Juden ist und bleibt. Und mit mir viele andere. Aber: Was macht das mit Kindern und Jugendlichen, wenn sie jeden Morgen auf dem Weg zur jüdischen Kita oder Schule durch eine Sicherheitsschleuse müssen? Das gleiche erleben Gläubige auf dem Weg zu ihrem Gottesdienst in die Synagoge. Das ist die traurige Normalität jüdischen Lebens im Deutschland von 2021.
Was kann die Gesellschaft dem anhaltenden Antisemitismus entgegensetzen?
Der Antisemitismus bedroht nicht nur die Jüdinnen und Juden in unserem Land. Joachim Hamburger, der Vorstandsvorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, hat das einmal so ausgedrückt: „Wer meint, der Antisemitismus sei nur für die Juden eine Gefahr, verkennt seine zersetzende Wirkung.“ Der Antisemitismus bedroht unsere Demokratie und damit uns alle. Nicht umsonst heißt es: „Wer in der Demokratie einschläft, darf sich nicht wundern, wenn er in der Diktatur erwacht.“ Deshalb bleibt es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Antisemitismus zu erkennen, ihn zu ahnden und seine Ursachen zu beseitigen.
Alltagsrassismus und Alltagsantisemitismus müssen auch im Alltag bekämpft werden. Im Kleinen wie im Großen, mit dem Strafrecht und in der Kneipe, in der Schule und im Bekanntenkreis. Gut, dass NRW jetzt eine Meldestelle für antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze einrichtet. Und es ist richtig, dass der Landesverband der Jüdischen Gemeinden Nordrhein nicht dauerhaft die Trägerschaft übernimmt. Denn Antisemitismus ist kein Problem der Jüdinnen und Juden, sondern eben der gesamten Gesellschaft. Auch die vom Gesetzgeber vorgesehene Strafverschärfung bei antisemitisch motivierten Straftaten kann meines Erachtens nur greifen, wenn die Zivilgesellschaft lautstark deutlich macht, dass Antisemiten den gesellschaftlichen Konsens mit Füßen treten.
Wie sehen Sie die Rolle der Kirchen in diesen Fragen?
In meinen Augen haben auch gerade wir Christinnen und Christen eine besondere Verantwortung, denn Antijudaismus, Antisemitismus und Antizionismus bauen aufeinander auf. Umso mehr freut es mich, dass sich auch viele Kirchengemeinden und viele Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit an unserem deutsch-jüdischen Festjahr beteiligen. Es ist wichtig, immer wieder herauszustellen und zu würdigen: Im Jahr 2021 leben Jüdinnen und Juden nachweislich seit mindestens 1700 Jahren auf dem Territorium des heutigen Deutschlands.
Was trägt das Festjahr „321: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zum Zusammenleben bei?
Da gilt es, nach vorn zu blicken. Vielfach wird über Jüdinnen und Juden nur als Opfer gesprochen. Selten werden sie als aktive und kreative Gestalter unserer Geschichte und heutigen Gesellschaft wahrgenommen. Das gelingt nun unter anderem durch die vielen Veranstaltungen in diesem Festjahr. Jüdisches Leben wird dadurch sichtbar und erlebbar. Wer miteinander redet, isst, trinkt und feiert, lernt sich kennen und im günstigsten Fall auch schätzen. Ich unterstreiche die Botschaft unseres Schirmherren, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der gesagt hat: „Nur wenn Jüdinnen und Juden hier vollkommen sicher, vollkommen zuhause sind, ist dieses Deutschland vollkommen bei sich!“ Bis dahin haben wir noch eine ganze Menge zu tun.