Artikel teilen:

Antisemitismus im Netz – Als ob die ganze Welt gegen einen ist

Für Betroffene kann es monströs wirken, wenn gegen sie im Internet gehetzt wird: Wer ist dafür verantwortlich, und ist das eigentlich die Mehrheit? Speziell mit antisemitischer Hetze beschäftigt sich eine Tagung in Bonn.

Kürzlich gaben 47 Organisationen bekannt, dass sie sich von der Plattform X zurückziehen – wegen Hass, Hetze, Aufrufen zu Gewalt und Desinformation. “Das alles gehört seit der Übernahme durch Elon Musk in immer größerem Umfang zu den alltäglichen Umgangsformen auf X”, erklärten sie. Und nicht nur ihnen reicht’s.

Immer wieder hatten Organisationen oder prominente Einzelpersonen in der Vergangenheit angekündigt, aus diesen und ähnlichen Gründen die Plattform zu verlassen. X ist keineswegs das einzige Soziale Medium, das in Debatten über Hass im Internet im Fokus steht. Hinzu kommen Messengerdienste, von denen Kritiker oft Telegram nennen.

In Zahlen ausgedrückt: Registrierte Straftaten rund um Hass-Postings stiegen von 2022 auf 2023 nach Angaben von Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt um fast 136 Prozent. Im vergangenen Jahr waren es 8.011 Straftaten (2022: 3.396), darunter 3.251 Volksverhetzungen (2022: 1.073) und 2.438 Beleidigungen (2022: 981).

Eine Ausprägung von Hass im Netz ist Antisemitismus. Zu diesem Thema fand am Wochenende in Bonn eine Studientagung statt. Veranstalter: der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) mit Sitz im hessischen Bad Nauheim.

Auf der Tagung nahm Nathalie Friedlender, Leiterin der Politischen Bildung an der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, TikTok in den Blick. Dort kursierten seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 jede Menge Videos und andere Beiträge mit antisemitischen Inhalten – und auch Gewalt. All das treffe auf mangelndes Wissen zu Antisemitismus und dem Nahostkonflikt. Hinzu komme, dass ausgewogene Haltungen zu wenig Aufmerksamkeit bekämen.

Um Jugendliche für Inhalte zu sensibilisieren, wäre es sinnvoll, TikTok auf Lehrpläne zu setzen, so Friedlender. Außerdem müsse ernst genommen werden, dass die Plattform jungen Menschen für die politische Meinungsbildung diene.

Auswüchse im Internet sind auch dem Beauftragten der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, ein Dorn im Auge. In seinem Podcast erklärte er neulich, was zu beobachten ist: “Hass und Häme für Opfer deutscher Vernichtungslager, Drohungen gegen jüdische Journalisten, Mordfantasien gegen öffentlich Position beziehende Jüdinnen und Juden, abstruse Verschwörungserzählungen”.

Josephine Ballon ist Rechtsanwältin und Geschäftsführerin der Organisation HateAid, die Opfer digitaler Gewalt unterstützt. In dem Podcast sagte sie, dass die Erfahrung, Hass im Internet ausgesetzt zu sein, Menschen häufig einschüchtere und ihnen das Gefühl gebe, “die ganze Welt ist gegen sie”. Gewalt werde auch in privaten Mails und Nachrichten und nicht ausschließlich in der Öffentlichkeit ausgeübt.

Wer so etwas erlebe, ziehe sich oft zurück. Die Beiträge dieser Menschen fehlten dann aber, denn das Internet diene auch der Meinungsbildung. Täterinnen und Täter, über die wegen der Anonymität im Netz viel zu wenig bekannt sei, seien eine “kleine, hochaktive Minderheit”. Diese manipuliere den Diskurs, sei besonders laut und nutze Algorithmen, um als relevant zu erscheinen, erklärte Ballon.

Zwar gibt es Regelungen wie den europäischen Digital Services Act. Ballon betonte jedoch, dass es schwierig sei, Recht auch tatsächlich durchzusetzen: Netzwerke handelten intransparent, nationale Gesetze etwa zu Antisemitismus stünden grenzüberschreitenden Anbietern von Plattformen gegenüber.

Im Fall des Falles sollten Screenshots gemacht und an die Polizei weitergeleitet werden, rät die Expertin. Betroffenen helfe es sehr, Zuspruch und Solidarität zu erhalten, sei es in Kommentarspalten oder persönlich in einer E-Mail. “Gegenrede ist natürlich ganz wichtig.” HateAid verklage manchmal auch Soziale Netzwerke, so Ballon.

Gegenrede und Aufklärung möchte auch der Psychologe Ahmad Mansour leisten. Es sei ein Problem, dass junge Menschen über Soziale Medien zum Beispiel kaum differenzierte Betrachtungen über den 7. Oktober mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel bekämen. Daher: “Heute muss der Kampf gegen Antisemitismus digitalisiert werden.”