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An Gottes Gebot und Gerechtigkeit erinnern

Präses Annette Kurschus verteidigt Einmischung der Kirchen in Politik

BONN/BIELEFELD – Die westfälische Präses Annette Kurschus hat das Engagement der Kirchen in sozial-, gesellschafts- und umweltpolitischen Fragen verteidigt. Die Kirche sehe sich seit der Flüchtlingskrise „einem breiten Strom der Kritik gegenüber, sowohl in den Feuilletons als auch in der Theologie“, sagte Kurschus in Bonn. „Man attestiert uns eine grassierende ,Appellitis‘ sowie moralische und geistliche Selbstüberhöhung.“ Doch es sei die besondere Aufgabe der Kirchen im Staat, in Erinnerung an Gottes Gebot und Gottes Gerechtigkeit an die Verantwortung von Politikern und Bürgern zu appellieren.
Zugleich warnte die leitende Theologin der viertgrößten Landeskirche vor voreiligen Schlüssen und mahnte zur Besonnenheit. Da es in der evangelischen Kirche kein Lehramt gebe, das Überzeugungen und Normen für Christen festlegt, „folgen evangelische Christen ihrem informierten und theologisch geschärften Gewissen“, erklärte Kurschus, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. „Sie können sich dabei auch irren.“ Die Kirche sollte deshalb sehr genau überlegen, „wann und wem sie was meint sagen zu müssen. Sie sollte sorgfältig abwägen, wie sie dies jeweils tut, und wird sich immer der Gefahr bewusst sein, dabei den Mund zu voll zu nehmen.“
Die westfälische Präses verwahrte sich zudem dagegen, Gott für eigene Vorlieben zu instrumentalisieren: „Gott ist nicht der engelumschwebte, vollbartberauschte Inbegriff des je aktuellen ,common sense‘ darüber, was menschlich, vernünftig oder machbar sei.“ Gott sei unbequem, gerade und zuerst für die Kirchen.
Kurschus sprach auf einer Tagung zum Karl-Barth-Jahr 2019, zu der die Friedrich-Ebert-Stiftung, der Reformierte Bund und die EKD eingeladen hatten. Karl Barth (1886-1968) gilt als einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts.
Die westfälische Präses ging in ihrem Beitrag auf die Beziehung zwischen Glaube und Politik sowie auf die Bedeutung des Gebets als Grundlegung des politischen Handelns der Kirche ein. Für Karl Barth sei das Gebet vordringliche Aufgabe des Glaubens für die Politik – „eine kräftige Provokation“, erklärte Kurschus: Wer betet, setze zunächst nicht auf das Handeln der Menschen, sondern auf Gottes Handeln.
„Wer betet, erkennt an, dass da etwas oder jemand über den menschlichen Möglichkeiten steht.“ Beten habe mit „empowerment“, also mit „Ermächtigung“ zu tun, „denn wo das Gebet menschliche Macht relativiert, da relativiert es auch menschliche Ohnmacht“.
Angesichts populistischer Tendenzen in vielen Ländern „mit ihrer neuen Lust auf einfache Antworten“ stelle sich die Frage, ob und wie angemaßte Allmacht und tatsächliche Ohnmacht miteinander zusammenhängen. „Wer weiß, vielleicht wird es ausgerechnet durch das Gebet möglich, in aller Vorläufigkeit und mit allem Ernst, in aller Bescheidenheit und mit Selbstbewusstsein menschliche Politik zu treiben – und Politik menschlich zu machen?“, fragte Kurschus. epd