Herr Passauer, Sie haben das Zeitzeugenprojekt zur Friedlichen Revolution 1989 initiiert, das am Sonntag präsentiert wird. Wie kamen Sie dazu und was ist Ihnen daran besonders wichtig?
Nach meiner Wahrnehmung fangen wir 60 Jahre nach dem Bau der Mauer und gut 30 Jahre nach ihrer Öffnung an, uns unsere Geschichte durch Geschichten zu erzählen. Die Zeit der Interpretationen, der Ab- und Bewertungen und der Deutungen weicht einer Zeit des Zuhörens und Entdeckens. Das weckt Neugier.
Ich wollte in Kooperation mit dem westlich sozialisierten Superintendenten des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte, Bertold Höcker, besonders Menschen ermutigen, ihre Geschichte zu erzählen, die öffentlich wenig vorkommen, obwohl sie viel bewegt haben. Denn bei Veranstaltungen und Ereignissen waren und sind ja bis heute die Menschen besonders wichtig, die vor – während und danach – aktiv mitgestaltet haben. Sie wollten wir ehren. Außerdem kenne ich von manchen Menschen Geschichten, die es wirklich wert sind, festgehalten zu werden. So sind die Interviews eine sehr interessante Geschichtsstunde. Gestaltet von Menschen aus unterschiedlichen Jahrgängen, Berufs- und Interessen-Gruppen.
Welche Rolle spielt die Kirche in der DDR und der christliche Glaube bei dem Projekt?
Die Frage nach der Kirche, ihrem Inhalt, ihrem Standort innerhalb der Gesellschaft und ihrer Zukunft begleitet mich seit meinen Ausbildungszeiten. 1969 wurden wir ordiniert mit der Bemerkung, dass wir als Gehalt allenfalls Alimente erwarten können. Alles andere ist ungewiss. Und dann habe ich erlebt, wie lebendig eine Kirche sein kann, wenn sie durch äußere Herausforderungen ständig ihren Standort und ihre Daseinsberechtigung begründen muss.
Dieser Lernort Kirche lädt geradezu ein, die eigenen Gaben, Interessen und Fragen einzubringen. Und durch ihr synodales Prinzip konnte sie einem eher diktatorisch ausgerichteten System wunderbar vorleben, wie wenig Macht es braucht, um möglichst viele Menschen einzubinden. Das war eine große Stärke. An diese Stärke, die sich auch heute mit dem Wort Kirche verbinden lässt, möchte ich erinnern.
Sie sind selbst ein Zeitzeuge, welche Botschaft wollen Sie vor allem an junge Leute heute weitergeben?
Ein Motto der sogenannten 1968er Bewegung, das mich sehr geprägt hat, hieß: „Wer verändern will, muss mitmachen.“ Auch ich selber habe nicht geglaubt, wie spannend etwa die Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer Kirche sein kann. Einmischen, um der Demokratie ihren unverwechselbaren Platz zu erhalten. Ein- und mitmischen um der Gleichgültigkeit ihre Kraft zu nehmen. Denn Gleichgültigkeit ist schlimmer als Hass.
Die Bürgerbewegung in der DDR erkämpfte auch freie Wahlen. Was würden Sie heute den Bürgerinnen und Bürgern im Blick die Wahlen am 26. September zurufen?
Macht mit – kommt – wagt etwas. Überlasst das Wahlergebnis nicht den Umfragen von heute. Denn unter den vielen drängenden Fragen stehen der Erhalt und die Festigung unserer Demokratie an erster Stelle. Und da ist jede und jeder gefragt.
Die Friedliche Revolution konnte sich der totalitären Macht entgegenstellen, weil für viele Zeit ihres Lebens eben die Kirche der Lernort für Demokratie war – und hoffentlich bleiben wird. Das steht für mich beispielhaft für engagiertes Leben.
Die Fragen stellte Sibylle Sterzik.
Martin-Michael Passauer (Foto von 1992), war Stadtjugendpfarrer für Ostberlin, Ostberliner Superintendent und von 1988 bis 1990 persönlicher Referent von Bischof Gottfried Forck.