Terminnot, überlaufende Notaufnahmen: Wie lassen sich Patientinnen und Patienten im Gesundheitssystem besser lenken? Das ist ein zentrales Thema der aktuellen Gesundheitspolitik. Ein Überblick.
Der Nächste bitte. Die Deutschen gehen im internationalen Vergleich ziemlich häufig zum Arzt. Die Bundesrepublik liegt mit 9,8 Arzt-Patienten-Kontakten pro Jahr deutlich über dem Durchschnitt der westlichen Industriestaaten. Zugleich beschweren sich zahlreiche Patientinnen und Patienten über lange Wartezeiten auf Arzttermine.
“Patientensteuerung” heißt deshalb das neue Zauberwort, das im Koalitionsvertrag eine große Rolle spielt und auch beim Deutschen Ärztetag, der am Dienstag in Leipzig begann, zu den zentralen Forderungen gehört. “Ein wesentlicher Grund für lange Wartezeiten ist, dass zu viele Versicherte durch das Gesundheitssystem irren, ohne an den richtigen Behandlungsort zu kommen”, sagt beispielsweise Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek).
So suchten 20 Prozent der Versicherten 2022 sechs oder mehr unterschiedliche Arztpraxen auf, zwei Prozent der Versicherten sogar mehr als zehn Praxen. Immer mehr Menschen gingen auch aus Bequemlichkeit und wider besseres Wissen direkt zum Facharzt, obwohl es viel sinnvoller wäre, zunächst den Rat des Hausarztes einzuholen, erklärte auch Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Union und SPD haben sich in den Koalitionsverhandlungen auf Einführung eines “verbindlichen Primärarztsystems” verständigt. Ein einziger Hausarzt, auf den die Versicherten sich für eine gewisse Zeit festlegen, soll für Patienten erste Anlaufstelle sein und im Bedarfsfall an Fachpraxen weiterleiten. Dem Koalitionspapier zufolge könnte das System ab 2028 zu Einsparungen von zwei Milliarden Euro jährlich führen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hält ein solches System für dringend notwendig. “Dass sich jeder auf Kosten der Allgemeinheit aussucht, was ihm am besten passt, das ist weltweit einzigartig, aber nicht fair und definitiv nicht mehr länger leistbar und bezahlbar”, sagt er. Ein Primärarzt schaffe nicht die freie Arztwahl ab, ergänzte Reinhardt. Patienten sollten weiterhin ihre Ärzte wählen oder wechseln, “aber nicht mehr willkürlich jede Versorgungsebene nach Gutdünken ansteuern können”.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) versprach in Leipzig, sie wolle die Einführung eines Primärarztsystems “schnell umsetzen”. Dass die CDU-Politkerin zugleich eine Garantie für Facharzttermine festschreiben will, dürfte den Ärzte-Funktionären allerdings gar nicht gefallen.
Der Teufel liegt im Detail: Auch Reinhardt betonte beim Ärztetag, dass das Primärarztsystem keine Strategie der Zugangsverengung sein dürfe. Und der Verband der Ersatzkassen betonte kürzlich, dass reine Hausarztmodelle nicht funktionierten. Auswertungen zeigten, dass an solchen Programmen teilnehmende Versicherte weder weniger Facharztbesuche noch weniger Krankenhausaufenthalte hätten.
Eine flächendeckende Umsetzung des Modells könnte die Hausarztpraxen zudem bei etwa 75 Millionen Versicherten an ihre Kapazitätsgrenzen bringen und damit zu einem neuen Flaschenhals in der Versorgung führen. Die Frage, ob es künftig angesichts des demografischen Wandels überhaupt noch genügend Hausärzte gibt, ist dabei noch gar nicht mitbedacht.
Die Ersatzkassen haben ein eigenes Modell für eine bessere Patientensteuerung vorgelegt: Es sieht vor, dass jeder gesetzlich Versicherte für sein persönliches Ärzteteam einen Hausarzt und bis zu drei grundversorgende Fachärzte auswählen kann. Die Entscheidung für dieses Ärzte-Team soll verbindlich zunächst für ein Jahr gelten. Dabei könnte der Versicherte Ärzte des Teams direkt und ohne Überweisung in Anspruch nehmen. Daneben sei es möglich, eine telemedizinische Ersteinschätzung per Telefon oder App zu nutzen, der sich bei Bedarf direkt eine Videosprechstunde anschließt.
Kritik am Primärarztsystem kommt auch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Vorstand Eugen Brysch fordert, zunächst bei der Erreichbarkeit der Arztpraxen anzusetzen, um eine bessere hausärztliche Versorgung sicherzustellen. Die Sprechstunden- und Öffnungszeiten der Vertragsärzte müssten besser kontrolliert werden. Jede Hausarztpraxis müsste bei der Einführung eines Primärarztsystems zusätzlich 2.000 Patientinnen und Patienten betreuen, rechnet Brysch vor. “Dabei gibt es bereits Praxen, die Neupatienten abweisen.”